Als Mohammed Khalil am vergangenen Mittwochmorgen um sechs Uhr in seiner Zelle geweckt wurde, ahnte er nicht, dass er kurz darauf das Gefängnis verlassen würde. Er werde heute in seine Heimat Tunesien abgeschoben, teilten Beamte der Landespolizei Sachsen dem 23-jährigen Strafgefangenen mit. „Aufstehen, es geht nach Hause.“
Seit neun Monaten sitzt Khalil in der Justizvollzugsanstalt Leipzig ein. 2016 wurde er wegen Drogenhandels zu 15 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Weil er zwei Drittel seiner Strafe abgesessen hat, soll er raus aus Deutschland. Sein Asylantrag wurde abgelehnt, ebenso ein Antrag auf Bleiberecht. Widerstand ist zwecklos, die Abschiebung wurde exakt vorbereitet. Ehe der verdutzte Khalil begriff, was vor sich ging, wurden ihm schon Handschellen angelegt. Im Gefängnishof wartete ein Transporter, der ihn zu einem Sonderterminal des Airports Leipzig bringen würde. Früher schickte die U.S. Army von hier aus ihre Soldaten in den Irak, heute nutzt die Bundespolizei das separate Gebäude.
Körperliche Gewalt ist an der Tagesordnung
Den öffentlichen Bereich des Flughafens meiden die Behörden – aus Sicherheitsgründen. Oft genug wehren sich die Betroffenen mit allen Mitteln gegen ihren Rücktransport. Körperliche Gewalt ist an der Tagesordnung. Vielfach verletzen sich die Männer und Frauen auch selbst, um ihre Abschiebung in letzter Minute zu verhindern. Manche ritzten sich im Abflugbereich mit Holzsplittern die Adern auf. Toilettenräume werden daher gründlich geprüft, Spiegel abmontiert. Es gab sogar Fälle von Rasierklingen unter der Zunge oder in anderen Körperöffnungen. Deshalb werden die Betroffenen vor dem Abflug aufwendig untersucht – von Ärzten natürlich, denn solche intimen Kontrollen sind gerade für die Araber die größte Demütigung, gegen die sie auch heftigsten Widerstand leisten.
Doch trotz aller Vorsicht und Vorbeugung mussten allein im ersten Halbjahr dieses Jahres 387 Abschiebungen kurzfristig wieder gestoppt werden – das ist eine Steigerung von mehr als 70 Prozent. Obwohl der finanzielle und administrative Aufwand für die Abschiebungen förmlich explodiert, gelingt es den Behörden immer seltener, ausreisepflichtige Ausländer außer Landes zu bringen. Und das vor dem Hintergrund rasant steigender Zahlen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) rechnet einer Studie zufolge bis zum Ende des Jahres mit bis zu 485000 Ausreisepflichtigen. Tatsächlich abgeschoben werden jedoch die wenigsten – Tendenz weiter negativ: Gelangen 2016 noch rund 25.000 Abschiebungen, so waren es im ersten Halbjahr 2017 nur 12545, darunter lediglich 13 Fälle von Gefährdern.
Die Abschiebequote sinkt
Damit liegt die Abschiebequote unter fünf Prozent. Für einen Rechtsstaat ist es auf Dauer nicht hinnehmbar, wenn behördliche Anordnungen und Gerichtsurteile in mehr als 95 Prozent der Fälle ohne Konsequenzen bleiben. Das Unvermögen der Politik, die juristischen und administrativen Folgen der Migrationswelle zu bewältigen, wächst auf diese Weise zu einer zweiten Flüchtlingskrise heran.
Die Gründe für die Ohnmacht sind vielfältig. Von den 387 misslungenen Abschiebungen in der ersten Jahreshälfte wehrten sich in 186 Fällen die Migranten zu heftig, in weiteren 61 Fällen meldeten sie sich kurzfristig krank. In 113 Fällen schließlich weigerte sich die Flugzeug-Crew, die um sich schlagenden Menschen in die Maschinen zu lassen. Weitere 27 Aktionen scheiterten, weil die Herkunftsländer plötzlich gegen alle Absprachen die Rücknahme ihrer Bürger ablehnten.
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Hinzu kommen zahllose Proteste und mehr als 1000 Petitionen von deutschen Bürgern, die sich gegen die Abschiebung von Ausländern wehren, die als gut integriert gelten. Hauptkommissar Lars Rose, Familienvater und Einsatzleiter der Bundespolizei bei der Abschiebeaktion am vergangenen Mittwoch, kennt das Dilemma: „Abschiebungen ganzer Familien gehen dir menschlich oft nahe. Die Eltern haben zumeist einen Job, die Kinder gehen zur Schule und sprechen sehr gut Deutsch. Aber auch ihre Abschiebeurteile sind juristisch von mehreren Instanzen geprüft worden. Als Beamter der Bundespolizei muss ich die Urteile umsetzen.“
Jeden Tag müssten 2000 Menschen abgeschoben werden
Es drängt sich jedoch der Eindruck auf, dass oft die Falschen abgeschoben werden. Es trifft vor allem diejenigen, die ordentlich gemeldet sind, zur Arbeit oder zur Schule gehen und derer die Polizei leicht habhaft werden kann. Die anderen sind kaum zu fassen.
Wolfgang Steiger, Generalsekretär des CDU-Wirtschaftsrats fordert deshalb einerseits konsequente Abschiebung der Ausreisepflichtigen und gleichzeitig eine raschere Integration derjenigen, die bleiben dürfen. Der Fachkräftemangel lässt grüßen.
Im Fall von Mohammed Khalil hatte die Bundespolizei allerdings alles getan, um die Abschiebung erfolgreich durchzuziehen. Der Tunesier wurde am vergangenen Mittwoch gemeinsam mit 25 Landsleuten ausgeflogen. Der Grund: Alle waren rechtskräftig verurteilte Straftäter, unter anderem wegen Vergewaltigung, Drogenhandels und Totschlags. An Bord des Fluges DNU 5161 von Leipzig nach Enfidha, 100 Kilometer südlich von Tunis, befanden sich auch noch drei islamistische Gefährder. Außerdem zwei Ärzte, zwei Dolmetscher und ein Angehöriger einer Menschenrechtsorganisation.
72 Bundespolizisten in Zivil ohne Schusswaffen und Reizgas sollten etwaigen Widerstand der Straftäter im Keim ersticken. Für die Aktion charterte die Bundespolizei von einer dänischen Privatfirma extra eine McDonnell Douglas mit 148 Sitzplätzen. Kosten der Aktion für den Steuerzahler: rund 250.000 Euro. Das sind etwa 10.000 Euro für jeden der ausreisepflichtigen Tunesier. Damit ist die Dimension klar: Wenn die Bundesregierung in den nächsten zwei Jahren alle Ausreisepflichtigen abschieben will, müsste sie an jedem Arbeitstag rund 2000 Menschen außer Landes schaffen – ein Ding der Unmöglichkeit.
Der Familiennachzug stellt Kommunen vor Probleme
Seit 2014 sind mehr als 1,6 Millionen Menschen nach Deutschland geflüchtet. Die meisten stellen Anträge auf Asyl oder versuchen, einen Aufenthaltstitel als Bürgerkriegsflüchtling zu erhalten. Doch nur etwa die Hälfte von ihnen hat Erfolg. Diese Leute setzen jetzt alles daran, ihre Familien nachzuholen. Die anderen tauchen unter, reisen in benachbarte EU-Länder, täuschen eine falsche Identität vor oder versuchen, sich mithilfe von Anwälten und Vereinen wie Pro Asyl durch die Instanzen zu klagen.
Der innenpolitische Sprecher der Unions-Bundestagsfraktion, Stephan Mayer, drängt deshalb auf einen härteren Kurs. „Der Familiennachzug stellt Kommunen vor erhebliche Probleme, vor allem bei der Unterbringung“, so Mayer. Bei voll anerkannten Flüchtlingen sei zwar keine Einschränkung beim Familiennachzug möglich. „Bei subsidiär Schutzberechtigten sollten wir aber die zweijährige Aussetzung des Familiennachzugs verlängern“, verlangt der CSU-Mann. „Das ist hart für die Betroffenen, aber mit Blick auf die Grenzen unserer Aufnahmefähigkeit notwendig.“
Den Vorschlag von Innenminister Thomas de Maizière (CDU), abgelehnte Asylbewerber künftig unter Bundesregie in Deutschland in sogenannten Ausreisezentren zusammenzufassen, nennt Mayer „sehr interessant, er könnte zur effektiveren Durchsetzung der Ausreisepflicht beitragen“. Allerdings ist de Maizière selbst nicht mehr auf diese Idee zurückgekommen, obwohl der Städte- und Gemeindebund die gleiche Forderung erhebt. Verantwortlich für die Abschiebungen sind nach wie vor die Bundesländer und die Ausländerbehörden in rund 600 Städten und Landkreisen – ein buntes Durcheinander von Anordnungen und Rechtsdurchsetzung. Besonders niedrig fallen die Abschiebezahlen in Ländern mit rot-grünen Regierungen aus. Der rot-rot-grüne Senat von Berlin schrieb eigens in die Koalitionsvereinbarung, Abschiebungen möglichst zu vermeiden.
Zahl ausländischer Strafgefangener wächst
Betroffen von der Abschiebungskrise sind auch die Gefängnisse. René Müller vom Bund der Strafvollzugsbediensteten spricht von einer kontinuierlich wachsenden Zahl ausländischer U-Häftlinge und Strafgefangener. Besonders in Sachsen, NRW und Hamburg sei die Lage in den überbelegten Gefängnissen „kritisch“, sagt er. Helfen könne nur eine vorzeitige Abschiebung der Straftäter. Müller befürchtet Knastaufstände in naher Zukunft. Vor allem nordafrikanische Straftäter würden eine „hochaggressive und unbelehrbare Klientel“ bilden.
Für Mohammed Khalil endete der vergangene Mittwoch vergleichsweise glimpflich. Während die drei islamistischen Gefährder gleich bei Ankunft von der tunesischen Geheimpolizei in Gewahrsam genommen wurden, konnte Khalil nach kurzer Registrierung durch die Behörden zu seiner Familie fahren. „Die freuen sich alle, das feiern wir“, sagt er dem FOCUS-Reporter zum Abschied. Zurück nach Deutschland darf Khalil genau wie die anderen abgeschobenen Straftäter nicht mehr, sonst muss er den Rest seiner Freiheitsstrafe abbüßen. Ob ihn das abschreckt?
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