Es war der 8. Dezember 1987, als der damalige sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow und US-Präsident Ronald Reagan den sogenannten INF-Vertrag unterzeichneten. Das geschlossene Abkommen verbietet den Vertragspartnern unter anderem den Bau und den Besitz von landgestützten Nuklearraketen mit einer Reichweite von 500 bis 5500 Kilometern.
Mit dem Vertrag wurde erstmals eine ganze Waffenkategorie verboten. In nicht einmal drei Jahren wurden fast 3000 Raketen verschrottet, der weitaus größte Teil waren Waffen aus der Sowjetunion. Der Vertrag gilt bis heute als Meilenstein der atomaren Abrüstung.
Bereits 2008 erhielten die US-Geheimdienste jedoch Hinweise, dass sich Russland nicht an das Abkommen hält. Russland habe einen neuen bodengestützten Marschflugkörper entwickelt, getestet und später auch stationiert.
2011 erhärteten sich die Vorwürfe, 2014 schrieb der damalige US-Präsident Barack Obama einen Brief an den russischen Präsidenten Wladimir Putin. Er bot ihm Verhandlungen an, eine neue Spirale der Aufrüstung müsse verhindert werden. Das daraufhin tagende Special Verifications Committee sollte den Streit schlichten – doch ohne Erfolg. Es wurden gegenseitige Vorwürfe ausgetauscht. Russland warf seinerseits den USA vor, gegen den INF-Vertrag zu verstoßen.
Geheimes Papier listet Optionen auf
Jetzt droht der Streit offenbar zu eskalieren. Einem Bericht von NDR, WDR und „Süddeutscher Zeitung“ zufolge denke die Nato darüber nach, wie auf einen Verstoß Russlands gegen das Abkommen über die nuklearen Mittelstreckenraketen reagiert werden könne. Nach Informationen des Rechercheverbunds wurde im Bündnis dazu ein als geheim eingestuftes Papier an die Mitgliedstaaten übermittelt. Es soll insgesamt 39 Optionen auflisten.
Dort gebe es beispielsweise Empfehlungen, mehr Frühwarnsysteme zu installieren, die U-Boot-Abwehr zu verstärken und B-2- und B-52-Bomber häufiger in Europa einzusetzen. Außerdem sei von der Möglichkeit die Rede, die nukleare Abschreckung der Nato auszubauen, berichten die Medien – eine beängstigende Option.
Gefahren durch nukleare Aufrüstung
„Im Rahmen der aktuellen Eskalation der Beziehungen ist es vor allem ein Problem, dass die Intransparenz auf russischer Seite mit Blick auf die Übungen und Stationierungen von Waffen zunimmt“, sagt Stefan Meister, Experte für die russische Außen- und Sicherheitspolitik bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, zu FOCUS Online. Es sei schwer, die Vorwürfe gegen Russland final zu bestätigen. Einen Beweis haben die USA bislang nicht vorgelegt. Der Experte hält den Verstoß Russlands gegen das Abkommen aber für sehr wahrscheinlich.
Doch wie realistisch ist es, dass die Nato tatsächlich eine nukleare Aufrüstung als Gegenmaßnahme erwägt? „Die USA sind bereits dabei, ihre Atomwaffen zu modernisieren, die Briten und Franzosen ebenfalls“, sagt der Sicherheitspolitik-Experte. Inwieweit es neben einer Aufrüstung tatsächlich auch zu einer Stationierung von Atomwaffen in Europa kommt, sei noch nicht entschieden. „Aber es wird modernisiert und Atomwaffen gewinnen auf beiden Seiten wieder an Bedeutung.“ Ein Unterlaufen des Abrüstungsabkommens und der Kontrollregime wertet der Experte als „problematisch“.
Im Video: Geheimpapier an alle Mitgliedsstaaten: Nato erwägt nukleare Aufrüstung
Eine Verschärfung der Situation sieht auch Oliver Meier, stellvertretender Forschungsgruppenleiter „Sicherheitspolitik“ bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Doch durch die Stationierung landgestützter Marschflugkörper würde keine grundsätzlich neue Bedrohungslage entstehen. „Während des Kalten Krieges musste man nach der Stationierung der SS-20 mit einer neuartigen Bedrohung umgehen. Heute ist Europa bereits seit Jahren in der Reichweite von russischen nuklearfähigen Marschflugkörpern, die auf Schiffen und Flugzeugen stationiert sind“, sagt Meier zu FOCUS Online.
Nato-Sprecher bestätigte Gespräche über mögliche sicherheitspolitische Folgen
Ein Nato-Sprecher wollte in der Nacht zum Freitag weder die Existenz der Papiere bestätigen, noch sagen, wer es erstellt haben könnte. Er bestätigte lediglich, dass es innerhalb des Bündnisses bereits formelle Gespräche über die Einhaltung des INF-Vertrages und mögliche sicherheitspolitische Folgen für die Nato gegeben habe.
Ob die Vorwürfe gegen Russland, sich nicht an das Abkommen zu halten, von allen anderen 28 Bündnispartnern unterstützt werden, ist unklar. Der Nato-Sprecher verwies in Hinblick auf diese Frage auf die jeweiligen Hauptstädte. Dies deutet darauf hin, dass es bislang keinen klaren Nato-Kurs zu dem Thema geben könnte. Auch eine Reaktion des Bündnisses auf mögliche Verstöße gegen das Abkommen würde eine Konsensentscheidung verlangen.
„Situation mit Russland nicht weiter eskalieren“
Eine solche Konsensentscheidung hält auch Sicherheitspolitik-Experte Stefan Meister für unwahrscheinlich. „Einige Mitgliedsstaaten würden bei einer Aufrüstung nicht mitmachen, dazu gehört auch Deutschland“, sagt Meister. „Deutschland möchte die Situation mit Russland nicht noch weiter eskalieren.“
Dass die Allianz reagieren muss, wenn sich die Vorwürfe als richtig herausstellen, steht nach Ansicht von Oliver Meier von der Stiftung Wissenschaft und Politik jedoch außer Frage. „Eine Schnittmenge zwischen den Interessen der Nato-Mitglieder zu finden, wird eine große Herausforderung sein.“ Eine Überarbeitung des INF-Vertrags wäre jetzt wünschenswert: „Der Vertrag ist vor 30 Jahren geschlossen worden. Seitdem haben sich die Technologien weiterentwickelt.“ Welche Fähigkeiten beispielsweise bewaffnete Drohnen haben, sei damals noch gar nicht abzuschätzen gewesen. Nur wenn Kompromisse gefunden werden, könne Russland wieder ins Boot geholt werden.
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