Im November 2016 ereignete sich im niedersächsischen Hameln ein Kapitalverbrachen, das weltweit Entsetzen auslöste: Ein Mann bindet seine Ex-Frau mit einem Seil ans Auto, schleift sie durch die Straßen. Zuvor rammt er ihr ein Messer in die Brust, schlägt mit der Axt auf sie ein. Doch Kader K. überlebt. In dem Buch „Novemberwut“ findet sie zurück ins Leben.
Nach dem Frühstück hatte Roman von Alvensleben in seiner Kanzlei angerufen und sämtliche Termine am Vormittag absagen lassen. Er hatte längere Zeit mit dem Bruder und dem Cousin des Opfers zusammengesessen und mit den Angehörigen das weitere juristische Vorgehen besprochen. Der Anwalt verließ gegen 7 Uhr das Haus. Die Nacht hatte er kaum ein Auge zugemacht. Die Bilder von der Mahnwache wirkten nach.
Das Foto aus der Boulevardzeitung machte ihn fertig
Immer wieder musste er an die Fotos von Kader, die ihr Baby auf dem Arm hielt und glücklich in die Kamera lächelte, denken. Er war aufgewühlt. Als Strafverteidiger war er schon mit vielen grausamen Verbrechen konfrontiert worden. Dieses hier hatte ihn wütend und traurig gemacht. Von Alvensleben verstand sich als emotionaler Mensch, der fest davon überzeugt war, dass er auch auf spirituelle Weise Kontakt zu seinen Mandanten, die Opfer einer schweren Straftat geworden waren, halten kann. Das Foto aus der Boulevardzeitung, das Kader in äußerst hilfloser Lage zeigte, machte ihn fertig. Er fragte sich, wie man nur so ein Bild drucken konnte, und er beschloss, bei passender Gelegenheit, mit dem Reporter, den er kannte, darüber zu sprechen.
Über den Autor
Ulrich Behmann, Jahrgang 1963, arbeitet als Chefreporter der Deister- und Weserzeitung in Hameln. Der Journalist berichtet seit mehr als 30 Jahren über spektakuläre Kriminalfälle in Deutschland und über Kriegsereignisse in aller Welt.
Der Anwalt hoffte auf Einsicht. Vielleicht würde sich nach dem Gespräch ein solcher Vorfall nicht wiederholen. Für seine Mandantin konnte er in dieser Sache wenig tun. Die Journalisten hatten das Foto Verwandten abgeluchst, Zigtausende Menschen hatten es bereits in der Zeitung und im Internet gesehen. Der Anwalt beschloss, nicht mit juristischen Mitteln gegen die Veröffentlichung vorzugehen. Mit seinem Kollegen Raban Funk hatte er vereinbart, den Medienrummel zu kanalisieren. Nur Funk und er sollten ab sofort für Kader sprechen. Sie vertraten jetzt die Interessen eines Verbrechensopfers, das nicht mehr in der Lage war, sich gegen solche Machenschaften zur Wehr zu setzen.
Kader K. lag im Koma
Obwohl von Alvensleben sehr genau wusste, dass Kader im Koma lag, hatte er sich an diesem Morgen in seinen Porsche gesetzt und die Medizinische Hochschule in Hannover angesteuert – ohne sich zuvor auf der Intensivstation angekündigt zu haben. Ein Fehler, wie sich herausstellen sollte. Um Kader zu schützen, hielt die Polizei den Namen des Krankenhauses, in dem die junge Hamelnerin behandelt wurde, geheim. Die Dewezet und Radio Aktiv sprachen zwar nur von einer Spezialklinik. Dennoch waren in sozialen Netzwerken Informationen durchgesickert.
Auf der Fahrt zur Universitätsklinik spielten die Gefühle mit Roman von Alvensleben Achterbahn. Er hörte wieder die Stimme, die ihm sagte, er müsse seiner Mandantin in diesem Moment unbedingt nahe sein. Die Vernunft riet ihm allerdings umzukehren, weil ein Gespräch ohnehin nicht möglich war. Mit einem unguten Gefühl im Bauch hatte sich der Anwalt entschieden, dennoch nach Hannover zu fahren. Er wollte gedanklich Kontakt zu der Schwerverletzten aufnehmen, um ihr zu signalisieren: „Da draußen ist jemand, der Ihnen helfen wird.“
Das ungute Gefühl kam vielleicht auch daher, dass von Alvensleben seit dem Kleinkindalter eine Art Krankenhausphobie hatte. Als er drei war, hatte ihn ein Lastwagen überfahren. Mit schwersten Verletzungen war er damals in die Klinik gebracht worden und dem Tod noch einmal von der Schippe gesprungen. Ein Jahr lang hatte er nach dem Unfall in verschiedenen Krankenhäusern verbringen müssen. Er mochte die engen Flure und den Geruch der Desinfektionsmittel nicht. Sie weckten Ängste in ihm und lösten jedes Mal ein beklemmendes Gefühl aus. Wenn es irgendwie ging, vermied er es, Krankenbesuche zu machen.
Aber bei Kader war das anders. Irgendetwas trieb ihn an, zu ihr zu fahren. Phobie hin oder her. Er konnte das selbst nicht so richtig verstehen. Um jeden Preis wollte er dazu beitragen, dass dieser Frau Gerechtigkeit widerfährt. Der Mann, der das Verbrechen begangen hatte, sollte mindestens fünfzehn Jahre hinter Gittern über das nachdenken müssen, was er seiner Ex-Frau und der Mutter seines Kindes angetan hatte. Dafür wollte er sorgen. Eine freundliche Schwester am Empfang der MHH wies ihm den Weg zu der Intensivstation, auf der Kader immer noch ums Überleben kämpfte. Als Roman von Alvensleben auf den endlosen Krankenhausgängen unterwegs war, kamen die Erinnerungen an seinen eigenen Klinikaufenthalt wieder hoch.
Da waren sie wieder, diese verfluchten Ängste. Am liebsten hätte er jetzt die Flucht angetreten. Aber er überwand die Angst und hielt durch. Als er an der Tür der Intensivstation klingelte, atmete er noch einmal tief durch und nahm all seinen Mut zusammen. Eine Krankenschwester öffnete. „Was kann ich für Sie tun?“
Der Anwalt entdeckte Ratlosigkeit in dem Gesicht der Krankenschwester
Alvensleben bekam Luftnot. Sein Magen krampfte. „Guten Morgen, Roman von Alvensleben. Ich bin der Opferanwalt von Kader K. und möchte gern zu meiner Mandantin.“ Während er das sagte, überreichte er der Schwester seine Visitenkarte und zeigte die Vollmacht vor. „Es tut mir leid, ich kann Sie nicht zu ihr lassen. Besser gesagt: Ich darf es nicht. Sie haben vielleicht dieses schreckliche Foto gesehen, das auf unserer Station entstanden ist … Die Klinikleitung hat entschieden, dass die Patientin nur Besuch von Angehörigen bekommen darf.“
Von Alvensleben runzelte die Stirn und musste schlucken. Der Rechtsanwalt war es nicht gewohnt, abgewiesen zu werden. Er durfte Mandanten in der U-Haft besuchen. Warum sollte das im Krankenhaus anders sein? „Ich bin Anwalt und gerade wegen dieses Fotos von der Familie beauftragt worden, so etwas in Zukunft zu verhindern“, erklärte er und machte dabei vielsagende Gesten. „In einem kurzen Moment der Zweisamkeit mit meiner Mandantin möchte ich ihr das Gefühl geben, dass da jemand ist, der sich ab sofort um ihre rechtlichen Belange kümmert. Ich möchte ihr ein paar Minuten nahe sein.“ Der Anwalt entdeckte Ratlosigkeit in dem Gesicht der Krankenschwester.
Vielleicht hatte sie aber auch sein Ansinnen verstanden und wollte ihm helfen. „Einen Moment bitte. Ich hole einen Arzt.“ Auch das Gespräch mit dem Neurochirurgen verlief wenig erfolgversprechend. Der Mann im weißen Kittel zuckte mit den Schultern und wiederholte das, was die Schwester schon gesagt hatte. Immerhin erfuhr von Alvensleben, dass der Arzt an der Operation beteiligt gewesen war. Der Hirnchirurg wusste genau, wie es um sie stand. „Wenige Millimeter haben in diesem Fall über Leben und Tod entschieden. Ihr Zustand ist weiter äußerst kritisch. Sie braucht jetzt absolute Ruhe.“
Kaders Bruder hatte eine besondere Mission
Der Rechtsanwalt verstand. Die Sorgenfalten auf der Stirn des Arztes waren ihm nicht entgangen. Er hatte mit ernster Miene zu ihm gesprochen. Von Alvensleben bedankte sich für das Gespräch, setzte sich auf dem Flur auf einen Stuhl und ließ die Hände kraftlos in seinen Schoß fallen. Eigentlich wollte er nur noch weg von diesem Ort, der ihn irgendwie runterzog. Aber er war fest davon überzeugt, dass er die Koma-Patientin mit seinen Gedanken erreichen konnte. Roman von Alvensleben hielt sich für jemanden, der telepathische Kräfte aktivieren konnte. Er hatte das schon oft erlebt, sprach aber nicht darüber, weil er glaubte, man würde ihn sonst für verrückt erklären. Zwanzig Minuten lang saß der Anwalt schweigend da und dachte an Kader, die er nur von Fotos kannte. Fest davon überzeugt, dass ihr seine wohlwollenden Gedanken helfen würden zu überleben, sprach er leise mit der Schwerverletzten. Nur gut, dass mich hier keiner sieht und hört, dachte er.
Als von Alvensleben die Medizinische Hochschule verließ, begegnete er auf dem Flur Kaders Mutter Hayriye und ihrem Bruder Maruf. Sie wollten Kader besuchen. Maruf hatte eine besondere Mission. Eine Bekannte hatte ihm geraten, am Krankenbett den berühmten Thronvers aus dem Koran zu rezitieren. „Das wird ihr helfen und sie vor bösen Mächten schützen“, hatte die Frau gesagt. Maruf war zwar gläubig, er konnte diese Sure aber nicht auswendig. Im Gegensatz zu seiner Schwester betete er nicht fünfmal am Tag, er fastete auch nicht. „Wie soll ich das machen?“, hatte Maruf gefragt und einen Tipp bekommen.
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„Flüstere ihr einfach immer wieder den Satz ,Mit der Macht von Ayat Al-Kursi …‘ ins Ohr. Das wird schon reichen.“ Maruf wollte heute seine Mission erfüllen. Am Krankenbett beugte er sich tief hinab zu Kader. Ihr rechtes Ohr konnte er nicht erreichen. Davor hingen, von einer kranähnlichen Vorrichtung gehalten, zwei daumendicke Beatmungsschläuche. Mehrmals sprach er den Satz aus.
Plötzlich geschah etwas, das Maruf für ein Zeichen Gottes hielt. Erschrocken wich er zurück. Ihm war unheimlich zumute: Kader öffnete ihre Augen. Sie schaute ihn allerdings nicht an. Sie starrte ins Leere. Maruf war sprachlos. Jetzt verstand er, warum im Hadith zum einen die besondere Bedeutung des Thronverses als Herrscher aller Verse des Korans herausgestellt und zum anderen seine Schutzfunktion betont wurde. Im Volksglauben hatte das weite Verbreitung gefunden. Viele Muslime trugen ein Amulett mit diesem Vers. Für Maruf war das, was er gerade erlebt hatte, fast so etwas wie weiße Magie. Er beschloss, in Zukunft mehr im Koran zu lesen und öfter als bisher zu beten. Kader machte rasch Fortschritte.
Sieben Tage nach der Tat, öffnete sie erneut die Augen
Am 1. Advent, sieben Tage nach der Tat, öffnete sie erneut die Augen. Ihr Bruder Maruf war bei ihr. Er saß an ihrem Bett und hielt ihre Hand. „Wenn du mich erkennst, dann mach die Augen auf und wieder zu.“ Kader schien ihn zu verstehen. Sie blinzelte mit den Augen. Nach Tagen des Hoffens und des Bangens waren das für ihn Momente des Glücks. Maruf Korkmaz war aufgeregt und euphorisch. Mit Kader ging es bergauf. Noch aus dem Krankenhaus rief er seine Mutter an. „Sie hat wieder die Augen geöffnet und mich erkannt. Ist das nicht schön?“
48 Stunden später zogen die Intensivmediziner den Beatmungsschlauch aus Kaders Lunge. Kurz danach entfernten sie auch die Thoraxdrainage. Kaders Gesundheitszustand verbesserte sich von Tag zu Tag. Ein Wunder angesichts der zahlreichen schweren Verletzungen, die die junge Frau erlitten hatte. Maruf Korkmaz sprach mit den Ärzten. Sie sagten ihm, dass seine Schwester keine Schlafmittel mehr bekomme. „Sie befindet sich aber trotzdem wieder in einem Tiefschlaf. Das kann noch Tage, Wochen oder Monate so gehen.“ Einige Tage später erwachte Kader aus dem Koma. Sie fragte sofort nach Cudi. „Wo ist mein Sohn? Wie geht es ihm?“ Ihr Bruder konnte sie beruhigen. Maruf wollte von seiner Schwester wissen, ob sie sich an den verhängnisvollen Abend erinnern kann. „Ja, natürlich“, antwortete sie. „Er hatte ein Messer in der Hand. Damit hat er auf mich eingestochen.
Ich wollte Cudi vor Angriffen schützen. Deshalb habe ich geschrien, so laut ich konnte.“ Während Nurettin Burov wie von Sinnen auf sie einschlug, habe sie nur gedacht: Ich werde sterben. An mehr konnte sich Kader nicht erinnern. Die 28-Jährige erholte sich körperlich schneller als gedacht. Bereits in der Medizinischen Hochschule begann sie mit der Physiotherapie. Am 12. Dezember wurde Kader verlegt. Zu ihrem eigenen Schutz hielt die Polizei auch den neuen Aufenthaltsort geheim. Nur den Angehörigen und den beiden Opferanwälten war bekannt, wo sie behandelt wurde.
Jede noch so kleine Berührung ließ Kader K. zusammenzucken
In der renommierten BDH-Klinik in Hessisch Oldendorf, die auf die Rehabilitationsbehandlung von Schädel-Hirn-Verletzten spezialisiert ist, wurde aus Kader Korkmaz vorübergehend Carina Schmidt. Die Ärzte wussten: Der Name Kader war durch die Medien weltweit bekannt geworden und stand für ein skrupelloses Verbrechen. Andere Patienten sollten das Gewaltopfer nicht erkennen. Die Gespräche über die Tat hätten die Psyche der jungen Hamelnerin belasten können. Kader hatte sehr starke Schmerzen. Jede noch so kleine Berührung am Brustkorb, am Bauch und am Rücken ließ sie zusammenzucken. Ohne Schmerzmittel hielt sie es nicht aus. Sie hatte Gedächtnislücken und war vergesslich. Immer wieder vergaß sie ihren Handy- Code.
Mühsam und mithilfe von Therapeuten versuchte Kader immer wieder aufs Neue, ihren Weg zurück ins Leben zu finden. Sie war hart im Nehmen. Tapfer und wehrhaft. Wie zuvor. Aber sie merkte auch, dass sie rasch müde und schneller aggressiv wurde. Früher war das nicht so, dachte sie. Was hat er mir nur angetan …?
Die psychischen Veränderungen bereiteten ihr Sorgen. Sie konnte sich schlecht konzentrieren. Ihr Gehirn war immer noch so schwer geschädigt, dass es Informationen erheblich langsamer verarbeitete als zuvor. Das Schädel-Hirn-Trauma dritten Grades hatte Spuren hinterlassen.
Manchmal schwieg sie lieber
Manchmal erzählte sie viel über das, was am 20. November passiert war. Manchmal schwieg sie lieber. Dann versuchte sie, die bösen Geister aus ihrem Kopf zu vertreiben. Schlimme Kopfschmerzen quälten sie. Krankenschwestern notierten, Kader sei neben der Spur, es falle ihr schwer, zuzuhören. Eine einfühlsame Psychologin und mehrere gute Physiotherapeuten gaben ihr Bestes, um Kader schnell wieder fit zu machen. Die Therapie bestand aus Massagen, Fango und Krankengymnastik. Kader bekam sogar Mathematik- und Deutschunterricht. Spiele sollten ihr Gedächtnis schulen.
Aber Kader war nicht mehr die, die sie einmal war. Das merkte sie, und das machte sie traurig. Für den Mann, mit dem sie ein Kind hatte, verspürte sie nur noch Abscheu. „Der Täter hat mein Leben zerstört“, sagte sie jedem, der mit ihr über ihr Schicksal sprach. 19 Tage nach dem Verbrechen ging Kader Korkmaz in die Stadt. Auf wackeligen Beinen erkundete sie Hessisch Oldendorf. Der Pflegedienst notierte an diesem Tag in ihrer Krankenakte, nach der Rückkehr sei ihre Stimmung weinerlich gewesen. „Sie war merkwürdig drauf.“
Ihrem Opferanwalt Roman von Alvensleben fiel auf, dass Kader Schwierigkeiten hatte, sich etwas zu merken. Wenn er mit ihr über ihre augenblickliche Lebenssituation und über ihre Zukunft sprach, stellte sie ihm innerhalb kürzester Zeit manche Fragen drei- oder viermal. Sie wirkte dann abwesend, seelisch erschöpft und ratlos. Manchmal kamen ihr die Tränen. Früher konnte sie gut rechnen. In der Grundschule war sie Klassenbeste gewesen. Seit dem Verbrechen musste sie zehnmal hinschauen, wenn sie Mathematik- Aufgaben lösen sollte. Häufig verdrehte sie die Zahlen – Kader war dann entmutigt und enttäuscht.
Anwalt von Alvensleben unternahm alles, um eine Vernehmung durch die Polizei so lange wie möglich hinauszuzögern. Ein von ihm beauftragter Psychiater hatte bei seiner Mandantin eine mittelschwere posttraumatische Hirnleistungsschwäche diagnostiziert. „Die Axthiebe auf den Kopf haben ihr Gehirn schwer verletzt. Sie braucht noch Zeit, um sich davon zu erholen.“
„Novemberwut: Der Fall Kader K. - ein Verbrechen, das die Welt erschüttert hat“ von Ulrich Behmann erschien im November im Niemeyer-Verlag.
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