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Friday, August 31, 2018

Stimmen aus Sachsen - „Menschen sind es satt, ständig bevormundet zu werden“: Pfarrer erklärt die Angst im Erzgebirge

Stimmen aus Sachsen: „Menschen sind es satt, ständig bevormundet zu werden“: Pfarrer erklärt die Angst im Erzgebirge
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„Den Menschen geht es hier so gut wie noch nie“ ist ein Satz, den man oft in Sachsen hört. Trotzdem gelingt es der AfD gerade hier stärker als anderswo, immer mehr offenbar Frustrierte um sich zu scharen. Wie in Frauenstein, einer kleinen Gemeinde im Erzgebirge. Doch nach Ausländerhatz und Mega-Demo in Chemnitz wächst in dem Kleinod die Sorge um den Ruf des Landes.

„Eigentlich sind die Menschen hier überall sehr freundlich. Ich hatte nie das Gefühl, dass sie verbiestert oder engstirnig sind“, sagt Carsten Gille. Der freischaffende Künstler sitzt auf einem roten Samtsofa in seiner Hof-Galerie, die früher ein Stall war, und streicht sein grauweißes Haar zurück. Doch bei einer Bürgerversammlung 2015 zur Einrichtung eines Heims für 88 Flüchtlinge im benachbarten Nassau hat dieses Bild einen Riss bekommen. „Die Stimmung war von Anfang an unglaublich feindselig. Als ein Kirchenvertreter erzählte, dass die Menschen doch erst einmal abwarten und ihre Herzen öffnen sollten, antwortete die Menge mit primitivem und aggressivem Gegröle“, erinnert sich der 59-Jährige.

"Die Gröler haben einen BMW vor der Tür ihres abbezahlten Hauses"

Sanft geschwungene Berghügel, üppige Eichenwälder, verträumte Weiher - an seinem Haus wachsen sogar Wein und Feigen: Gille lebt mit seiner Frau seit 1982 in Frauenstein und liebt das Idyll der 3600-Einwohner-Gemeinde, zu der neben Nassau auch noch drei weitere Orte zählen. Seit der Ausländerhatz in Chemnitz am Sonntag und der Extremistendemo am Montag gehen ihm die Bilder von Nassau jedoch wieder durch den Kopf, Tag für Tag. „Die Leute, die dort gegrölt haben, waren keinesfalls sozial schwach. Die haben ihren BMW vor der Tür ihres Hauses, das abbezahlt ist“, so Gille.

Stimmen aus Sachsen

Ein Mann wird in Chemnitz auf offener Straße erstochen, danach kommt es zu Demonstrationen und Ausschreitungen. Sachsen steht derzeit international im Fokus. FOCUS Online wollte wissen: Wie sieht es dort wirklich aus und was denken die Menschen vor Ort über die Ereignisse? Unsere Reporter sind auf Spurensuche in Sachsen gegangen. Sie zeigen, welche Themen die Sachsen in ihrem Alltag beschäftigen. Haben Sie Angst, verspüren sie Hass? Schämen sie sich für ihr Bundesland? Und: Welche Forderungen stellen sie an die Politik?

 

AfD hängte CDU bei Bundestagswahl mit 37,9 Prozent um 9 Prozent ab

Die Arbeitslosenquote von Sachsen kann sich sehen lassen. Mit 5,9 Prozent war sie im Juli im Osten Spitze und liegt nur 0,8 Prozent über dem Bundesdurchschnitt (5,1 Prozent). Hier und da stehen in Frauenstein Häuser leer. Aber insgesamt macht der Ort rund 30 Kilometer südlich von Dresden einen sehr gepflegten Eindruck. Trotzdem stimmten hier bei der Bundestagswahl mit 37,9 Prozent die mit Abstand meisten Wähler für die AfD – neun Prozent vor der CDU, die zwei Jahrzehnte eine feste Hausmacht in Sachsen war. So etwas wie die neue "Einheitspartei", witzeln Frauensteiner. Wären jetzt Landtagswahlen in Sachsen, würden 25 Prozent für die Partei von AfD-Chef Alexander Gauland stimmen. Also für jenen Mann, der die Ausländerhatz in Chemnitz nach dem Mord an einem Deutschkubaner als „normal“ bezeichnete.

„Ziemlich kompliziert, Verhalten zu erklären“

Die Suche nach schlüssigen Antworten für Unzufriedenheit und Ausländerfeindlichkeit nennt Gille „ziemlich kompliziert“. Vielleicht, mutmaßt der Maler, „wertschätzen die Menschen den heutigen Wohlstand nicht und wünschen sich etwas, dass es nicht gibt“. Vielleicht sei die ausgeprägte Abneigung gegen Nicht-Deutsche im Osten allgemein stärker, da es zu DDR-Zeiten noch viel weniger Ausländer gab, an die man sich auch nicht gewöhnen musste.

Was ihn aber immer mehr sorge, sei, dass die AfD „Unzufriedene gezielt für Ausländerhetze instrumentalisiert“ und nun am Samstag in Chemnitz auch noch zum „Gedenkmarsch“ für „alle Toten der Zwangsmultikulturalisierung in Deutschland“ aufrufe, erbost sich Gille. „Früher waren das ‚nur‘ Stammtischparolen. Die AfD aber hat dafür gesorgt, dass diese Hemmschwelle gegen Rassismus auch in der Gesellschaft nach unten verschoben wurde.“

„Ausgeprägte Sehnsucht der Sachsen nach dem starken Mann“

Hinzu komme noch eine sächsische Besonderheit, die zusätzlich erklären könnte, warum gerade Sachsen so oft durch ausländerfeindliche Zwischenfälle auffalle, ergänzt der Maler, der in Ost-Berlin direkt an der Mauer aufwuchs. „In Sachsen hat es schon immer eine ausgeprägte Sehnsucht nach dem starken Mann gegeben. Früher war es das ‚braune Sachsen‘ unter den Nazis, dann das ‚rote‘ unter den Kommunisten. Und nun fasziniert sie offenbar immer mehr die AfD.“

Im Video: Nur AfD-Anhänger sagen mehrheitlich: Der Rechtsstaat hat in Chemnitz nicht versagt 

Richtig mulmig allerdings werde ihm zumute, wenn die Menschen nicht einmal mehr Gerichtsentscheidungen verstünden, bereits ausgewiesene Flüchtlinge oder Ausländer wie den Ex-Bin-Laden-Leibwächter Sami A. zurückzuholen. „Natürlich klingt das erst mal verrückt, wenn ein Gericht ihn ausweist und ein anderes dann zurückholt.“ Doch solche Entscheidungen orientierten sich an Gesetzen, nicht an der Willkür. „Wenn die Menschen nun auch noch die Gerichtsbarkeit in unserem Land anzweifeln und demokratische Regeln in Frage stellen, dann sind wir auf dem Weg zurück ins Mittelalter“, meint Gille.

Hotelier Härtig: "Mir wäre mehr CSU in der CDU lieber"

„Traurig, sehr, sehr traurig“ haben die Ereignisse von Chemnitz Thomas Härtig gemacht. Der 58-Jährige betreibt weit oberhalb der Galerie von Gille direkt gegenüber der Kirche das Hotel „Goldener Stern“. „Sachsen wird dadurch in ein Licht gerückt, dass es so bei uns nicht gibt, ohne dabei das Rassismusproblem verneinen zu wollen“, so Härtig. Dass es überhaupt so weit kommen konnte, liegt seiner Meinung nach vor allem an der AfD selbst. „Ich lehne diese Partei ab. Sie bietet keine Lösungen, sondern krakelt nur und wiegelt die Menschen auf.“

 

Der zweite Faktor hat aus seiner Sicht hingegen sei die CDU, der er seine Stimme bei der Bundestagswahl gegeben habe. Denn die Partei sei unter Angela Merkel „zu weit nach links“ gerückt. „Mir wäre heute mehr CSU in der CDU lieber“, sagt der Chef des Vier-Sterne-Hotels. Die Union brauche „neue Gesichter“, die „frischen Wind“ in die Politik brächten – „so, wie das Sebastian Kurz in Österreich macht“. Eine „Begrenzung der Kanzlerschaft auf acht Jahre“ halte er für einen guten Ansatz.

"Verstehe, wenn Menschen Parolen hinterherrennen"

Zu einem Teil könne er aber auch verstehen, dass in Sachsen immer mehr Menschen „Parolen hinterherrennen, wenn einer sie mal brüllt“. Denn trotz der niedrigen Arbeitslosenquote gebe es doch viele Probleme, die den Erzgebirglern viel zu schaffen machten, obgleich ihre Landschaft „wie geschaffen für den Tourismus“ sei.

So zögen immer mehr junge Fachkräfte aus der Region und auch anderen Gegenden in Sachsen fort, weil das Gehaltsniveau in vielen Branchen einfach zu niedrig sei. Wenn im Winter im Frauenstein Schnee liege, kämen kaum Touristen in den Ort, der Betrieb lohne sich in dieser Zeit nicht. Aber wenn er seinen 15 Angestellten nicht zwölf volle Monatsgehälter zahlte, dann gingen sie irgendwann weg. Was fehlt, wären etwa gezielte Strukturförderprogramme für die bessere Erschließung von Naherholungsgebieten, die der ganzen Region zugutekämen.

"25 Prozent für AfD bei nächster Landtagswahl würde Politik blockieren"

Dass aus Deutschland bereits abgeschobene Flüchtlinge wieder zurückgeholt würden, versteht Härtig im Gegensatz zu Künstler Gille nicht. „Ich habe nichts gegen Ausländer und beschäftige selber zwei in meinem Hotel, sie machen hervorragende Arbeit.“ Doch die Politik müsse „irgendwann auch mal ‚Nein‘ sagen können – auch, wenn wir hier in Sachsen kaum Flüchtlinge haben“, schiebt der Frauensteiner Hotelier hinterher.

Und was würde es für Sachsen bedeuten, wenn die AfD im nächsten Jahr tatsächlich wie gerade prognostiziert 25 Prozent erhielte und dann vermutlich nur mit einer Anti-AfD-Koalition regieren könnte? „Das wäre schlimm. Denn dann ließe sich wohl kaum noch etwas durchsetzen mit Linken, Liberalen und Konservativen in einer Regierung.“

"Jetzt erst recht": Pfarrer warnt vor dem Trotz der AfD-Wähler

Warum die AfD mit ihren ausländerfeindlichen Parolen immer mehr Menschen anziehe, ist auch für Pfarrer Warnfried Hintze* ein Rätsel, der in der Erzgebirgsregion mehrere Kirchgemeinden betreut. Die jüngsten Exzesse in Chemnitz bezeichnet er als „unerträglich“ und „menschenunwürdig“. Dennoch warnt der Pfarrer davor, deswegen alle, die die AfD wählen, über einen Kamm zu scheren. „Die Menschen hier sind es satt, ständig bevormundet zu werden. Und wenn dann jemand behauptet, alle AfD-Wähler seien rechtsradikal, dann sagen sich immer mehr von den enttäuschten Wählern: ‚Jetzt erst recht‘.“

Zwar räumt der Gottesmann ein, dass die Unzufriedenheit, über die sich AfD-Anhänger beschwerten, gerade in Sachsen ein „Jammern auf hohem Niveau“ sei. Aber wer glaube, mit „AfD-Bashing“ die Partei zurückdrängen zu können, der mache die Rechnung nicht mit dem Trotz dieser Menschen. „Wenn die AfD im Parlament ist, dann sollten Politiker und auch die Medien versuchen, mit politischen Antworten gegen diese Partei anzugehen. Denn 25 Prozent kommen nicht einfach aus dem Nichts.“

Warum rechtsradikale Thesen der Partei ausgerechnet in Sachsen auf so großes Gehör stoßen, sei hingegen eine andere Frage. „Bevor es die AfD gab, gab es hier die NPD. Und die hat in einigen Gemeinden seinerzeit 20 Prozent erzielt.“ Er selbst sei „fest davon überzeugt“, dass viele einstige NPD-Wähler in der AfD eine neue politische Heimat gefunden hätten. „Das Problem ist: kaum war die NPD in Sachsen in der Bedeutungslosigkeit verschwunden, hat niemand mehr darüber geredet, wo ihre Wähler geblieben sind.“

*Name von der Redaktion geändert

Im Video: Dresdnerin appelliert nach Ausschreitungen in Chemnitz: "Das könnte Sachsens Untergang sein" 

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