Der Fall erschütterte Deutschland. Ein Mädchen wurde in Kandel von ihrem Ex-Freund in einem Drogeriemarkt erstochen. Rund acht Monate nach dem tödlichen Messerangriff auf die 15-jährige Mia hat das Landgericht Landau ihren Ex-Freund zu acht Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt.
Die Richter verurteilten den mutmaßlich aus Afghanistan stammenden Abdul D. wegen Mordes und Körperverletzung nach Jugendstrafrecht, wie das Gericht am Montag mitteilte.
Mit dem Gerichtsurteil endet der juristische Teil der Aufarbeitung. Doch in Kandel ist die Tat immer noch sehr präsent, regelmäßig gibt es seitdem Demonstrationen von Rechten. Der Stadtbürgermeister Günther Tielebörger drückt im Interview mit FOCUS Online seine Sorge davor aus, dass das Urteil die Spannung in der Stadt sogar erhöhen könnte.
FOCUS Online: Herr Tielebörger, wie beurteilen Sie den Ausgang des Prozesses gegen den Mörder von Mia?
Günther Tielebörger: Es gab nicht die Höchststrafe, das kann ich nicht kritisieren. Wir haben einen Rechtsstaat und dem Urteil der Richter müssen wir uns fügen. Aber das emotionale Empfinden befriedigt das nicht. Man hat mit der Höchststrafe gerechnet und die Emotionen der Bürger, mit denen ich gesprochen habe, kochen heute hoch.
FOCUS Online: Was sagen die Menschen?
Tielebörger: Die Leute sagen: ‚Das ist nicht gerecht.‘ Diese Ansicht kann ich auch verstehen. Und meine Sorge ist, dass das Urteil Wasser auf die Mühlen der Rechten ist, die ja immer noch regelmäßig bei uns demonstrieren.
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FOCUS Online: Welche Auswirkungen könnte das Urteil auf die Situation in Ihrer Stadt haben?
Tielebörger: Es könnte die Spannung in der Stadt erhöhen, die Unzufriedenheit mit dem Staat wird dadurch angeheizt. Ich könnte mir vorstellen, dass die Rechten das Urteil für sich nutzen und sagen: ‚Seht her, wenn ein Ausländer ein deutsches Mädchen ersticht, dann bekommt er noch nicht mal die Höchststrafe.‘
FOCUS Online: Und wie wollen Sie darauf reagieren?
Tielebörger: Wir bekunden immer wieder, dass wir solche Hetze nicht akzeptieren und wir weiter weltoffen sein werden. So findet am Wochenende das Fest der Kulturen mit Künstlern und Speisen aus vielen Ländern statt. Wie haben in den ganzen Jahren keine Probleme mit unseren Flüchtlingen gehabt und wir wollen zeigen, dass wir kein brauner Fleck in der Südpfalz sind.
FOCUS Online: Aber wirkt das denn? Die Rechten demonstrieren ja weiter.
Tielebörger: Man muss wissen, dass die Demonstrationen bei uns nichts mehr mit dem Mord an Mia zu tun haben. Sie haben sich verselbständigt. Es geht natürlich um die Flüchtlingspolitik, aber auch um Demokratiekritik, um die Renten oder Sozialpolitik. Und es sind nur noch eine Handvoll von Bürgern aus Kandel dabei, der Rest kommt aus anderen Städten oder Bundesländern.
Umfrage: Hat der Rechtsstaat Ihrer Meinung nach versagt, als er die jüngsten Ausschreitungen in Chemnitz nicht verhindert hat?
FOCUS Online: Und welche Sorgen haben die Bürger aus Kandel?
Tielebörger: Die Kandler reagieren sensibel auf die Demonstrationen und die meisten sagen: ‚Das ist nicht unsere Welt, nicht unsere Meinung.‘ Aber sie sagen auch: ‚Die Politik muss sich unserer Sorgen annehmen.‘ Und damit meinen sie nicht nur, dass es endlich eine sinnvolle Strategie in der Flüchtlingspolitik gibt, sondern es geht ihnen auch um ihre Rente und bezahlbaren Wohnraum. Wenn die Bundespolitik sich dieser Sorgen nicht annimmt, dann wird die Situation irgendwann eskalieren.
FOCUS Online: Eine Eskalation nach einem ähnlichen Fall gab es nun in Chemnitz. Wie beurteilen Sie die Situation dort?
Tielebörger: Es ist natürlich eine ganz andere Dimension als bei uns. Aber auch bei uns nehmen bei den Demonstrationen nicht nur Nazis oder Reichsbürger teil. Sondern Menschen, die etwa unzufrieden mit dem Sozialsystem sind.
FOCUS Online: Welchen Rat haben Sie an Ihre Kollegen in Chemnitz?
Tielebörger: Wir haben am Anfang kurz nach dem Mord gedacht: Wenn wir auf die rechten Demonstrationen ganz verhalten reagieren, dann ebben sie irgendwann ab. Das ist falsch. Dagegenhalten ist das Rezept. Man muss nicht auf jede Demo mit einer Gegendemo reagieren. Aber eine Stadt muss zeigen, dass sie nicht so denkt wie die Rechten. Wir haben ein breites Bündnis aus Politik, Vereinen, Kirche und Gewerben organsiert und zeigen: Gemeinsam sind wir stark. Und eine starke Präsenz der Polizei ist wichtig bei den Demonstrationen. Dann fühlen sich die Bürger nicht verunsichert. Das wichtigste ist aber das direkte Gespräch mit den Bürgern und Verständnis für ihre Sorgen.
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