Immer wieder forderte die AfD bei der Demo in Chemnitz am Samstag die Teilnehmer auf, Provokationen aus den eigenen Reihen nicht zu dulden. Die Rechnung ging nicht auf. Und das lag an der AfD selbst. Denn noch vor dem Start schloss sich ihr Zug offiziell mit Tausenden Demonstranten der fremdenfeindlichen Pegida und des Bündnisses „Pro Chemnitz“ zusammen.
Eigentlich sollte der „Trauermarsch“-Zug, zu dem die AfD-Landesverbände von Sachsen, Thüringen und Brandenburg am Samstag in Chemnitz aufgerufen hatten, schon um 17 Uhr losgehen. Doch die mehreren Tausend Anhänger, die sich vor der AfD-Geschäftsstelle in der Theaterstraße eingefunden haben, kommen einfach nicht vom Fleck. Denn nachdem die Polizei den Protest-Parcours von „Pro Chemnitz“ kurzerhand verweigert, um ein Zusammentreffen mit dem AfD-Pegida-Trupp zu vermeiden, versucht das Demo-Trio, die beiden Züge offiziell zusammenzubringen.
"Wir sind weder Neonazis noch Idioten"
Die Wartezeit bis zum „Ok“ der Polizei und dem Abmarsch, der sich um eine gute Stunde verzögert, stellt die Geduld der Wartenden vor der AfD-Geschäftsstelle auf eine harte Probe. Hauptproblem: Um die beiden Züge zu vereinigen, müssen sich die drei Gruppen und deren Ordner mit der Polizei abstimmen.
Abgesehen von kleineren Gruppen, die gelegentlich immer wieder „Lügenpresse“ skandieren, wenn sie Journalisten entdecken, bleibt es jedoch während der gesamten Wartezeit ruhig. Nicht zuletzt, weil die Organisatoren immer wieder über den kleinen hellblauen Lautsprecherwagen der AfD die Teilnehmer ermahnen, dass dieser Marsch ein „Marsch des Schweigens“ sei und jede Provokation auch in den eignen Reihen unterbunden werden solle. „Wir sind weder Neonazis noch Idioten, und heute wird die Weltpresse auf uns schauen. Und wir sind uns im Klaren darüber, was wir heute für ein Zeichen setzen“, ermahnt einer der Organisatoren die Teilnehmer.
Stimmen aus Sachsen
Ein Mann wird in Chemnitz auf offener Straße erstochen, danach kommt es zu Demonstrationen und Ausschreitungen. Sachsen steht derzeit international im Fokus. FOCUS Online wollte wissen: Wie sieht es dort wirklich aus und was denken die Menschen vor Ort über die Ereignisse? Unsere Reporter sind auf Spurensuche in Sachsen gegangen. Sie zeigen, welche Themen die Sachsen in ihrem Alltag beschäftigen. Haben Sie Angst, verspüren sie Hass? Schämen sie sich für ihr Bundesland? Und: Welche Forderungen stellen sie an die Politik?
Über Medien wird in den Gruppen häufig schwadroniert. Viele behaupten, es habe gar keine Ausländerhatz gegeben nach dem tödlichen Messerangriff auf den 35-jährigen Chemnitzer am vergangenen Sonntag. Sätze wie „Wo sind denn die Strafanzeigen?“, „Es gibt nur ein Video, und da ist nur ein einziger Gejagter zu sehen“ oder „Der Hitlergruß wurde von den Medien inszeniert“ fallen immer wieder.
"Allein die Frage ist ja schon eine Unverschämtheit"
Mitten im Pulk direkt vor dem Eingang der Geschäftsstelle steht ein älteres Ehepaar und verfolgt stumm das Geschehen. Der hochgewachsene Mann - kantiges Gesicht, eckige Brille und grauer Bart zwischen Filzhut und abgewetzter, schwarzer Lederjacke - blickt sofort säuerlich, ohne mich direkt anzuschauen, als ich nach den Gründen frage, warum er an diesem Marsch teilnehmen wolle. „Allein die Frage ist ja schon eine Unverschämtheit! Es hat eine Rempelei auf dem Stadtfest gegeben, wie das so oft passiert. Aber in diesem Fall hat die eine Seite Verstärkung geholt und den Chemnitzer mit Messern kaltblütig gekillt“, gibt der Rentner ungehalten zurück.
Auf die Nachfrage, warum die beiden denn nach der tödlichen Messerattacke auf die Straße gingen, für die zwei tatverdächtige Flüchtlinge in Untersuchungshaft sitzen, bei den tödlichen Angriffen, die von Deutschen begangen würden, aber nicht, schaltet sich seine Frau ein. „Weil der Chemnitzer nicht das einzige Opfer ist. Es ist inzwischen wie ein Serienmord. Und es sind immer dieselben Täter.“ Betretenes Schweigen tritt ein, die ersten misstrauischen Blicke der Umstehenden fliegen mir zu. Ich erspare mir eine Nachfrage zu „immer dieselben Täter“.
"Ich bin Christin, wir haben die Flüchtlinge freundlich behandelt"
Nach einer erneuten Aufforderung der Organisatoren, bei dem Schweigemarsch in jedem Fall Ruhe zu bewahren, taut die frostige Stimmung jedoch ein wenig auf. Nachdem ihr Mann sich abwendet hat, beginnt seine Frau zu erzählen, dass sie selbst in der Flüchtlingshilfe gearbeitet habe. „Da sind unglaublich viele nette und ehrliche Menschen dabei. Ich bin Christin wie viele andere Deutsche auch, und wir haben sie freundlich behandelt, als sie zu uns kamen“, sagt die Dame, die als Krankenschwester gearbeitet hat.
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Doch habe sie auch schlechte Erfahrungen gemacht, sagt sie - und berichtet von einer Kollegin, die ihr von einem Zwischenfall bei einer Entbindung einer Muslimin erzählte. Als die Frau nach der Entbindung genäht werden sollte, habe sie sich geweigert, dies von einem Mann machen zu lassen, da sich muslimische Frauen nicht von fremden Männern berühren lassen dürften. „Es hat ein riesiges Theater gegeben, während die Frau weiter blutete.“ Am Ende hätte der Arzt zwar die Naht machen können, aber eine solche Debatte in diesem Augenblick zu führen, sei doch wohl eine „totale Unverschämtheit“, ereifert sich die Dame.
Renterin: "Ich kriege so einen Hals, wenn ich eine Muslimin mit Kopftuch sehe"
Anschließend berichtet sie, dass sie aufmerksam Werke vom deutsch-ägyptischen Islamkritiker Hamed Abdel-Samad gelesen habe. Der Politikwissenschaftler bezeichnet den Islam als eine „unreformierbare Religion“, hält jedoch durchaus für möglich, dass Muslime ihre Werte reformieren können. Wenn Flüchtlinge zu uns kämen, müssten sie sich unserer Kultur anpassen, nicht umgekehrt. „Ich kriege einen so einen Hals, wenn ich eine junge muslimische Frau mit einem Kopftuch sehe. Das ist ein klares Zeichen der Unterdrückung, und das will ich nicht tolerieren“, erzählt die Dame aus Zittau. „Ich hasse nicht die Muslime, aber ich hasse ihre Ideologie. Deswegen lasse ich mich aber nicht als Rassistin beschimpfen.“
Ihren Namen wollte sie auf keinen Fall nennen, ergänzt die Rentnerin. „Das gibt zu viel Ärger im Familien- und Freundeskreis, vor allem, wenn wir in den Westen fahren. Dass wir auf Veranstaltungen von Pegida und der AfD gehen, das können wir dort nicht sagen. Da gehen sofort alle Rollläden runter.“
AfD-Kalkül von Protest ohne Ausschreitungen geht nicht auf
Die Rechnung der AfD indes, provozierende Zwischenfälle und Randale beim Protestmarsch zu vermeiden, geht am Ende nicht auf. Zwar gibt es während des Demonstrationszuges, der sich um kurz nach 18 Uhr mit von der Polizei rund 4500 geschätzten Teilnehmer in Bewegung setzt, keine größeren Zwischenfälle. Doch als die Ordnungskräfte die Veranstaltung schon wenige Minuten nach dem Beginn am Karl-Marx-Denkmal aus Sicherheitsgründen stoppen und eine weitere Stunde später auflösen, da die beantragte Zeit für die Demonstration abgelaufen ist, kocht die Stimmung wenig später an der zentralen Straßenkreuzung in der Innenstadt gefährlich hoch.
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Denn ein harter Kern von mehreren Hundert Demonstranten, von denen inzwischen viele Bierflaschen in der Hand haben und vorher mit der AfD marschiert sind, brüllt den herangerückten Polizeieinheiten Parolen wie „Widerstand“, „Wir sind das Volk“ und „Straße frei, Polizei“ entgegen. Einige stellen sich einem Wasserwerfer der Polizei in den Weg, andere schlagen wütend mit Fäusten an die Flanken des großen, blauen Fahrzeugs.
Für eine Viertelstunde droht die bislang friedlich verlaufende Demonstration in blanke Gewalt zu eskalieren. Dass dies am Ende nicht passierte, dürfte vor allem den massiven Polizeieinheiten zu verdanken sein. Denn sie ließen sich nicht vom erheblichen Aggressionspotential der Pöbler provozieren, von denen viele rein optisch dem rechtsextremen Spektrum nahestehen dürften.
AfD-Sympathisant zu Journalisten: "Da habt ihr die Bilder, die ihr wollt"
„Seht ihr, da habt ihr die Bilder, die ihr wolltet“, ruft ein Passant, der noch eine weiße Rose vom „Trauerzug“ der AfD in der Hand hält, einem Journalistenteam zu. Doch der Mann irrt. Denn niemand wollte diese Bilder, wenn nicht die AfD und ihre neuen Partner selbst. Denn sie selbst war es, die am Ende entgegen aller vorherigen Beteuerungen ganz offiziell den eigenen Protestzug mit jenem der fremdenfeindlichen Pegida und „Pro Chemnitz“ geradezu demonstrativ zusammengelegt hat.
So offen, wie die AfD diesen Schritt geht, so offen schreiten ihre Politiker an diesem Samstagnachmittag in Chemnitz auch mit Pegida-Gründer Lutz Bachmann im Gleichschritt. Der 45-Jährige, der bereits mehrfach unter anderem wegen Volksverhetzung verurteilt wurde, folgt gleich hinter den AfD-Landesvorständen Jörg Urban (Sachsen), Andrea Kalbitz (Brandenburg) und Björn Höcke (Thüringen).
Umjubelter Auftritt eines schmalen Mannes mit sauberem Rechtsscheitel
Als gegen 20 Uhr die Eskalationsgefahr in Chemnitz vorerst gebannt ist, ist das ältere Ehepaar aus Zittau vermutlich längst wieder auf dem Heimweg in die rund 200 Kilometer östlich entfernte Stadt an der tschechisch-polnischen Grenze. Die Kreuzung Straße der Nationen/Brückenstraße leert sich langsam. Und ein Vater schaut zufrieden seinen beiden kleinen, nicht einmal zehnjährigen Kindern zu, wie sie Sticker auf eine Litfaßsäule kleben, auf denen Sprüche wie „89 Wendezeit, jetzt ist es wieder einmal so weit“ oder „Jugend will deutsche Zukunft! Wer Mulitkulti will, soll zu Obama gehen“ stehen.
„Früher“, sagt die Dame, kurz bevor der AfD-Pegida-Zug sich für ein paar Minuten in Bewegung setzt, „habe ich verschiedene Zeitschriften gelesen. Heute lese ich nur noch ‚Compact‘.“ So heißt das rechtspopulistische Magazin aus Brandenburg, das Pegida und AfD sehr nahe steht.
Die Enttäuschung weicht aus den Gesichtern des Ehepaares während des Gesprächs nur ein einziges Mal, als ein schmaler Mann mit adrett rechtsgescheiteltem grauen Haar in schwarzem Anzug mit schwarzer Krawatte von einer Menschenmenge in die AfD-Geschäftsstelle begleitet wird und beide mit aufgehellter Mine synchron mitskandieren: „Höcke, Höcke, Höcke…“
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