"Welt in Gefahr" von Wolfgang Ischinger ist im Econ-Verlag erschienen und kostet 24 Euro. Ischinger analysiert darin Krisenherde weltweit und gibt Antwort auf die Fragen, wie Deutschland und Europa auf diese Herausforderungen reagieren sollten.
In der Welt geschehen Dinge, die man noch vor Kurzem kaum für möglich gehalten hätte: Der Präsident der Vereinigten Staaten, einst unbestritten der Führer der „freien Welt“, brüskiert seine engsten Verbündeten erst mit der Aufkündigung des Iran-Abkommens, das von Amerikanern, Europäern, Russen und Chinesen in jahrelangen mühevollen diplomatischen Verhandlungen erarbeitet wurde, nur um dann kurze Zeit später den nordkoreanischen Diktator mit einem Gipfel zu ehren und weitreichende Zugeständnisse zu machen.
Die USA entpuppen sich als unsicherer Verbündeter
Und während er sich mit Kim Jong Un ganz prächtig zu verstehen scheint, ist Donald Trump seit Neuestem auf dem Handelskriegsfuß mit seinen engsten Verbündeten. Noch auf der Rückreise aus La Malbaie kündigte Trump per Twitter aus dem Flugzeug an, er werde die auf dem G7-Gipfel erarbeitete Abschlusserklärung nun doch nicht billigen.
Über den Autor
Wolfgang Ischinger wurde 1946 in Beuren geboren. Der studierte Jurist war Staatssekretär im Auswärtigen Amt und Botschafter in den Vereinigten Staaten. Seit 2008 leitet er die Münchner Sicherheitskonferenz.
In Washington wird derweil über weitere Strafzölle nachgedacht. Sie könnten dann zum Beispiel auch deutsche Automobilhersteller treffen, die in die USA exportieren. Wird unser Land für Trump zur Zielscheibe?
Was bedeutet das für die Zukunft der transatlantischen Partnerschaft und für die Zukunft des Westens?
In Europa gibt es neue Sorgen um die Stabilität des Euro-Raumes, nachdem in Italien eine Regierung zustande gekommen ist, für die sich die rechte Lega mit der linkspopulistischen 5-Sterne-Bewegung zusammengetan hat. Sie macht die Bundesregierung für die wirtschaftliche Misere des Landes mitverantwortlich und will die Sanktionen gegen Russland abbauen, für die die Europäische Union in den letzten Jahren beharrlich eingetreten ist.
Europaskeptische Parteien mit Erfolgen
In vielen Ländern Europas haben Parteien Erfolge erzielt, die der europäischen Integration sehr skeptisch gegenüberstehen. Im In- und Ausland melden sich jene lautstark zu Wort, die mehr Nationalstaat und weniger Europa haben möchten. In manchen Mitgliedsstaaten werden grundlegende europäische Werte und Prinzipien infrage gestellt. Wie soll Europa so langfristig funktionieren und „weltpolitikfähig“ werden?
In Moskau hat Wladimir Putin seine neue Amtszeit als russischer Präsident angetreten. Ob es unter seiner Führung zu einer Entspannung mit dem Westen kommen kann, scheint mehr als fraglich. Erst jüngst stellte er neue strategische Nuklearwaffen vor, die das russische Militär in den Dienst zu nehmen gedenkt.
Gleichzeitig kommen wir bei der Frage der Rüstungskontrolle kaum weiter, ein Rüstungswettlauf ist in vollem Gange. Seit der russischen Intervention in Georgien, der Annexion der Krim und der andauernden russischen Einmischung in der Ostukraine machen sich unsere Verbündeten in Mittel- und Osteuropa große Sorgen.
Im Video: Clans zahlen bis zu 100.000 Euro: Wie „Friedensrichter“ angeblich Blutrache verhindern
Einige Hundert Soldaten der Bundeswehr sind seit letztem Jahr in Litauen stationiert, um unsere Solidarität zu verdeutlichen. Einigen aber reicht das nicht.
Polen möchte mehr US-Soldaten im Land
So hat das polnische Verteidigungsministerium verkündet, man wolle am liebsten eine ganze amerikanische Division auf dem eigenen Territorium. Was bedeuten solche Entwicklungen für die europäische Sicherheit? Wie können wir Sicherheit gewährleisten, ohne in eine neue Spirale der Aufrüstung einzutreten, die Unsicherheit für alle bringen würde? (...)
Der Krieg in Syrien und seine Folgen für Europa sollten uns gezeigt haben, dass wir uns aus Konflikten jenseits unserer Grenzen nicht heraushalten können. Aber sind wir bereit, für den Erhalt der internationalen Ordnung glaubwürdig einzutreten? Was muss geschehen, damit man uns, die EU, in Moskau oder auch in Peking ernst nimmt?
Diesen unangenehmen Fragen können wir nicht mehr ausweichen.
Damit stellen sich neue Anforderungen und Erwartungen an uns Europäer. Vor allem, wenn wir uns immer weniger darauf verlassen können (und wollen), dass die USA willens und in der Lage sind, im Notfall auch dort aufzutauchen, wo zwar unsere, aber nicht ihre eigenen Interessen unmittelbar berührt sind.
Deutschland muss für die europäische Integration mehr tun
Für die deutsche Außenpolitik gilt nach wie vor: Ohne Europa ist alles nichts. Auf die Unsicherheiten der Gegenwart mit einem Rückzug in die Kleinstaaterei des 19. Jahrhunderts zu reagieren wäre ein Holzweg, der weder Frieden noch Wohlstand bringt. Es gibt kein wichtigeres außenpolitisches Interesse für Deutschland, als ein stabiles europäisches Umfeld zu schaffen und zu erhalten. In den vergangenen Jahrzehnten haben wir immens von einem friedlichen Europa profitiert – politisch und wirtschaftlich integriert in die Europäische Union, sicherheitspolitisch verankert in der Nato. Damit das auch so bleibt, wird Deutschland allerdings wesentlich mehr tun müssen als zuvor.
Die europäische Integration ist für Deutschland nicht nur ein unersetzbares Friedensprojekt, sondern eine strategische Notwendigkeit.
Umfrage: Welcher Partei trauen Sie am ehesten zu, in Deutschland für Innere Sicherheit zu sorgen?
Wenn die Bundesrepublik heute in Harmonie mit all ihren Nachbarn lebt, ohne territoriale oder sonstige Auseinandersetzungen, dann doch nicht zuletzt wegen einer EU, in der die Kleinen nicht von den Großen herumgeschubst oder gar bedrängt oder angegriffen werden. Die EU ist die zentrale Bedingung dafür, dass unsere kleineren Nachbarn das Wohlergehen des wiedervereinigten Deutschlands heute, anders als am Ende des 19. oder in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, nicht als bedrohlich, sondern als Vorteil für sich selbst definieren.
Europäisches Projekt ist gefährdet
Doch das europäische Projekt ist heute so gefährdet wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Gerade in diesen Tagen ist es wieder Mode geworden, das Heil in der Flucht ins Nationale oder gar Nationalistische zu suchen.
Von Frankreich bis Finnland haben sich in den letzten Jahren nationalpopulistische Parteien in ganz Europa ausgebreitet. Ihre Versprechen aber sind eine Sackgasse, eine Flucht aus dem 21. Jahrhundert zurück ins verhängnisvolle 20. Jahrhundert.
Im Angesicht dieser Entwicklung ist es vorstellbar, dass Europa zurück ins Chaos fallen könnte. Aber selbst wenn dieser „schlimmste Fall“ nicht eintritt, wäre ein dauerhaft zerstrittenes, von einer Krise in die nächste stolperndes Europa eine schwere, ja existenzielle Belastung. (...)
Einzelne Nationalstaaten sind nicht ansatzweise imstande, die in Zeiten der Globalisierung auf uns zukommenden Herausforderungen zu bewältigen. Geopolitisch und demografisch gesehen wird ein uneiniges Europa in der Welt immer unwichtiger und kleiner werden.
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Europas Staaten sind zu klein, um allein zu bestehen
Europas Staaten sind zu klein, um allein in der Welt von morgen zu bestehen. Wir hatten jetzt in Europa über 70 Jahre lang relativen Wohlstand, und ich fürchte, dass wir uns zu sehr daran gewöhnt haben. Es ist kein Naturgesetz, dass unser Lebensstandard so bleiben wird, wie er ist.
Aus globaler Perspektive schneidet die EU auf den ersten Blick gut ab: Das weltweite Bruttoinlandsprodukt lag im Jahr 2015 bei knapp 60 Billionen US-Dollar. Davon entfielen über 26 Prozent auf die 28 Mitgliedsstaaten der EU, rund 25 Prozent auf die USA und rund zehn Prozent auf China. Wer sich deswegen gleich wieder entspannt im Sessel zurücklehnt, sollte vorsichtig sein: Denn im Jahr 1970 lag der Anteil der EU am Welt-BIP noch bei fast 38 Prozent und der Anteil Chinas bei 0,8 Prozent.
Europas relativer Anteil an der Weltwirtschaft sinkt also: weil die anderen inzwischen mehr leisten und produzieren – vor allem, seit China wieder auf die Weltbühne zurückgekehrt ist. Durch die Seidenstraßeninitiative und durch viele andere Aktivitäten hat China enorm an Dynamik gewonnen und ist auf dem besten Weg, auch an die Wirtschaftskraft der USA heranzukommen. China gehört jetzt schon zu den innovativsten Ländern der Welt.
Demografische Entwicklung macht Sorgen
Auch die demografische Entwicklung ist nicht ermutigend. Zwar repräsentiert die EU 500 Millionen Menschen: 1,5-mal so viele wie die USA, dreimal so viele wie Russland, immerhin fast halb so viele wie China.
Und dennoch: Europa ist die einzige Region der Welt, die laut Prognosen der Vereinten Nationen zwischen 2010 und 2060 einen Bevölkerungsrückgang erleben wird – minus 4,9 Prozent.
Außerdem wird Europa alt. Der Anteil der Personen, die 65 Jahre oder älter sind, erhöhte sich schon seit 1950 von rund 8 auf 16 Prozent und wird bis 2050 auf knapp 27 Prozent steigen. Mehr als jeder vierte Europäer wird 65 Jahre oder älter sein!
Das wird riesige sozial-, renten- und gesundheitspolitische Herausforderungen mit sich bringen. All dies bedeutet: Auf Dauer wird es für europäische Staaten schwieriger werden, ihre Interessen gegenüber dem Rest der Welt durchzusetzen.
Zugleich gilt: Ob beim Klimawandel, den Menschenrechten oder dem Freihandel – Europa wird in einer zunehmend autoritären und illiberalen Welt noch stärker als zuvor um seine Interessen und eine Werteordnung kämpfen müssen, von der es bislang stark profitiert hat. Um überhaupt mitreden zu können, muss die EU mehr außenpolitische Verantwortung übernehmen. (...)
Eine militärische Perspektive Europas ist dringend notwendig
Außenpolitische und diplomatische Glaubwürdigkeit erfordert eine ausreichende militärische Unterfütterung. Friedrich der Große soll gesagt haben: „Diplomatie ohne Waffen ist wie ein Orchester ohne Instrumente.“ Das gilt leider auch heute noch. Wie Sigmar Gabriel es bei der Münchner Sicherheitskonferenz treffend formulierte, müssen wir Europäer, die wir weltpolitisch eher Vegetarier sind, uns in einer Welt der Fleischfresser behaupten. Deshalb ist es richtig, auch bei der Verteidigung über europäische Perspektiven nachzudenken.
In militärischer Hinsicht steht Europa wirklich schlecht da – unsere Rüstungsbestände sind seit dem Ende des Kalten Krieges stark geschrumpft, veraltet und zu allem Überfluss auch nur bedingt einsetzbar. In vielen europäischen Ländern steht mehr als ein Drittel der Waffensysteme, wie beispielsweise Panzer und Kampfhubschrauber, gegenwärtig nicht zur Verfügung, da Wartungsaufträge nicht erfüllt werden können. Dies liegt auch an geringen Verteidigungsausgaben. (....)
Nato und EU müssen wissen, ob sie sich auf Deutschland verlassen können
Die Partner in Nato und EU müssen wissen, dass sie sich auch in ernsten Konflikten auf Deutschland verlassen können. Die deutschen außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungswege sind dafür nicht immer hilfreich – gerade wenn schnelle Entscheidungen nötig sind.
So kommt es in Brüssel immer wieder vor, dass die Bundesregierung mit unterschiedlichen Meinungen aufwartet, je nachdem, welcher Teil der Regierung, welches Ministerium sich äußert. In Brüssel, in Washington und anderen Hauptstädten hält man solche Vorgänge für typisch deutsch. Die Unfähigkeit zur klaren deutschen Festlegung ist sogar als „German Vote“ in die europapolitische Fachsprache eingegangen. Durch uneinheitliches oder vages Auftreten steht Deutschland oft sich selbst bei dem Versuch im Weg, eigene außen- und europapolitische Interessen durchzusetzen.
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Zerstrittenes, vielstimmiges Berlin
Statt an einem Strang zu ziehen, spielen sich verschiedene Ministerien gegeneinander aus. Und dabei sind keineswegs nur Kanzleramt, Verteidigungsministerium und Auswärtiges Amt gemeint. Immer mehr Ressorts wirken an internationalen Entscheidungsprozessen mit, man denke etwa an die internationale Finanz- oder Energiepolitik, an Umwelt- oder Entwicklungspolitik, Terrorismusbekämpfung oder Piraterie. Die deutsche Außen-, Europa- und Verteidigungspolitik braucht eine verstärkte Koordinierung, die verhindert, dass ein deutscher Minister in Brüssel Dinge sagt, von denen seine Kabinettskollegen überrascht sind.
Oder, genauso schlimm: dass das Auswärtige Amt aus einer Pressemitteilung erfährt, welche Vereinbarung auf Kanzlerebene gerade getroffen wurde. So etwas würde den Franzosen und anderen europäischen Partnern nicht passieren.
Deutschland muss mit einer Stimme sprechen
Berlin vertut wichtige Chancen, wenn es nicht schafft, mit einer Stimme zu sprechen. Das erwarten die Bürger und auch unsere Partner. Die Ausrede, wir hätten stets Koalitionsregierungen, da sei die Politik aus einem Guss schwierig, dürfen wir nicht gelten lassen. Es geht schließlich um die internationale Durchsetzung deutscher Interessen, nicht um ein kleines Koalitions-Pokerspiel. Ein Nationaler Sicherheitsrat nach amerikanischem Vorbild könnte trotz aller Systemunterschiede Abhilfe schaffen. (...)
Deutschland muss die Bedingungen schaffen, den wachsenden außen- und sicherheitspolitischen Anforderungen professionell gerecht zu werden: als initiativ handelnder und verantwortlicher Akteur. Schon 2011, auf einem ersten Höhepunkt der Euro-Krise, sagte der damalige polnische Außenminister Sikorski, er habe „weniger Angst vor deutscher Macht als vor deutscher Inaktivität“. Ein polnischer Außenminister, der nach deutscher Führung ruft, um Europa zu retten. Eine bemerkenswerte Entwicklung.
Deutschland muss sich mehr einmischen und aktiv mitgestalten
Deutschland sollte Schritt für Schritt mehr Verantwortung übernehmen. Sich der großen globalen Veränderungen annehmen und sie aktiv mitgestalten. Das erfordert heute, insbesondere angesichts des Trump-Schocks, konkrete politische, budgetäre und auch militärische Entscheidungen. Mit hoffnungsvollen Sonntagsreden ist es jedenfalls nicht mehr getan.
Bei alldem darf das Ziel deutscher Politik in Europa nicht sein, als Zentralmacht zu diktieren. Vielmehr sollte es darum gehen, das Gewicht der deutschen Rolle entschlossen und nachhaltig einzusetzen, um die außen- und sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit der EU zu stärken und um das unvollendete Werk des Binnenmarkts und der Wirtschafts- und Währungsunion abzuschließen. Eine handlungsfähige, respektierte und krisenresistente EU sollte das Ziel einer vorausschauenden deutschen Außenpolitik sein. Oder, in den weiterhin gültigen Worten Thomas Manns formuliert: ein europäisches Deutschland, nicht ein deutsches Europa.

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