Fast vollständig verdeckt von einem riesigen Baugerüst ragt das Rathaus der Kreisstadt Freiberg am Rande des Obermarktes empor. Innen dominieren alte, antiquierte Holzelemente, in der Mitte des Eingangsbereichs steht die Stadtgründungsurkunde, geschützt von einem Glaskasten. 800 Jahre ist Freiberg dieses Jahr alt geworden, dem Rathaus ist das anzumerken. Der braun-gelbe Holzboden knarrt bei jedem unvorsichtigen Schritt.
Oberbürgermeister Sven Krüger (SPD) sitzt in seinem geräumigen Büro, ebenfalls mit vielen Erinnerungsstücken an vergangene Zeiten verziert, eine große Stadtkarte von Freiberg hängt an der Wand. Der Blick durch die hohen Fenster auf den Obermarkt wird durch die Bauplanen milchig. „Freiberg ist eine reiche Stadt, eine frühere Silberstadt“, erzählt Krüger im Gespräch mit FOCUS Online. Vor 800 Jahren wurde hier Silber entdeckt, die Stadt profitiere noch heute davon.
Freiberg hat zudem mit der Technischen Universität (TU) Bergakademie Freiberg eine gerade bei ausländischen Studenten beliebte Uni. Die TU ist eine der ältesten bergbautechnischen Universitäten weltweit. Über 4000 Studierende verzeichnet die Universität derzeit. Davon kommen nach Angaben einer Sprecherin der TU knapp 25 Prozent aus dem Ausland. Reichtum, Tradition und eine beliebte Universität. Freiberg wirkt von außen nahezu idyllisch, eine Wohlfühloase in Mittelsachsen.
Die Probleme der Stadt Freiberg
Doch die Wahrheit sieht anders aus. Die Stadt habe Sorgen, gibt Oberbürgermeister Krüger offen zu. Beim Namen genannt: Drogen. „Wir haben in Freiberg vor allem mit Crystal Meth große Probleme“, sagt Krüger. Das liege hauptsächlich an der nahen tschechischen Grenze. Der Kampf dagegen sei ein Abnutzungskampf. „Wenn ich mir die Drogenstatistik schönreden wollte, würde ich sagen: Wir liegen im unteren Mittelfeld in Deutschland, alles ist noch in Ordnung“, sagt Krüger. Doch man könne nicht die Augen davor verschließen, sondern müsse dagegen vorgehen. Auch wenn er zugibt, dass das enorm schwierig ist.
Stimmen aus Sachsen
Ein Mann wird in Chemnitz auf offener Straße erstochen, danach kommt es zu Demonstrationen und Ausschreitungen. Sachsen steht derzeit international im Fokus. FOCUS Online wollte wissen: Wie sieht es dort wirklich aus und was denken die Menschen vor Ort über die Ereignisse? Unsere Reporter sind auf Spurensuche in Sachsen gegangen. Sie zeigen, welche Themen die Sachsen in ihrem Alltag beschäftigen. Haben Sie Angst, verspüren sie Hass? Schämen sie sich für ihr Bundesland? Und: Welche Forderungen stellen sie an die Politik?
Die politische Situation der Stadt passt darüber hinaus ins mittelsächsische Bild. Auch in Freiberg konnte die AfD bei der Bundestagswahl 2017 über 30 Prozent der Stimmen holen, auch in Freiberg war sie mit Abstand die stärkste Partei. Krüger sieht den Grund dafür neben einem starken Wahlkampf der AfD, während andere Parteien „nicht vorhanden waren“, in der großen Zahl von Protestwählern. Dabei sei es durchaus verständlich, dass Leute auf die Straße gehen, um ihre Sorgen auszudrücken, so wie es in Chemnitz geschehen ist, sagt Krüger. Demonstrationen gehören für ihn zu einer Demokratie dazu. Das große Problem dabei sei, dass diese Demonstranten instrumentalisiert werden. Daher sieht Krüger ein Ende der Proteste in Chemnitz auch nicht in Sicht.
Zuzugsstopp für Migranten
Dass Demos wie in Chemnitz auch in Freiberg Einzug halten könnten, scheint sehr unwahrscheinlich. Die AfD sitzt seit 2014 mit im Stadtrat und es komme laut Krüger zeitweilen zu absurden Situationen. So sei es bereits vorgekommen, dass AfD, Grüne und Linke für den gleichen Beschluss gestimmt hätten. „Die AfD macht auch Politik für die Stadt und will nur das Beste für Freiberg“, sagt Krüger. So sei das politische Konfliktpotenzial sehr gering. Und auch der größte politische Streitpunkt, die Flüchtlingsfrage, ist seit Ende August offiziell beigelegt.
Als im Jahr 2015 eine große Zahl an Flüchtlingen an Deutschland kam, ging bei der Verteilung der Flüchtlinge in Mittelsachsen einiges schief. Freiberg bekam bis Anfang 2018 einen Bärenanteil zugewiesen, knapp 70 Prozent aller Migranten kamen in die Silberstadt – bei einem Anteil von 13 Prozent an der Bevölkerungszahl Mittelsachsens. Das ging soweit, dass Krüger eine Rechnung an Angela Merkel schickte, in der er Geld zurückforderte. 736.200 Euro gab die Stadt im Jahr 2016 für Asyl und Integration aus, dieses Geld wollte Krüger vom Staat zurückhaben. Eine Rückmeldung habe er bis heute nicht erhalten.
An der ungerechten Verteilung änderte sich dadurch auch nichts. Laut Krüger der Grund dafür, dass der Stadtrat Anfang dieses Jahres mit großer Mehrheit einen Zuzugsstopp für Migranten verabschiedete. Mit Zustimmung von CDU und SPD. Damit war Freiberg die fünfte Stadt in der Bundesrepublik, die einen Zuzugsstopp verabschiedete. Die Begründung: Freiberg wollte die ungerechte Verteilung nicht mehr dulden, forderte eine fairere Aufteilung. „Ich wurde von manch linker Gruppierung schon als Nazi bezeichnet“, erinnert sich Krüger.
Gerechtere Verteilung von Flüchtlingen
Letztendlich hatte der Beschluss Erfolg. Insofern, als dass die Landesregierung als Reaktion auf den Zuzugsstopp eine fairere Verteilung beschloss. Wo im Jahr 2015 noch 200 Flüchtlinge pro Woche nach Freiberg gekommen seien, waren es laut Krüger 2018 bislang zwei Flüchtlinge – im ganzen Jahr. Der Beschluss selbst wurde schon im April auf Eis gelegt, Ende August wurde er dann endgültig gekippt, es gibt seitdem offiziell keinen Zuzugsstopp mehr. Dafür aber eine gerechtere Zuweisung der Geflüchteten.
Aus politischer Sicht also alles gut in der Kreisstadt Freiberg? Nicht ganz. FOCUS Online hat mit zwei ausländischen, promovierenden Studenten der Universität Freiberg gesprochen. Die Uni ist eins der Aushängeschilder der Stadt, Freiberg bezeichnet sich gern als „Universitätsstadt“. Viele ausländische Studenten kommen nach Freiberg, die TU bietet einige Masterstudiengänge komplett in Englisch an. Auch Tareq Abuaisha und Ziad Abosteif gehören zu diesen Studenten. Beide promovieren an der TU und sehen die politische Situation in Freiberg sehr viel problematischer als sie nach außen wirkt.
„Man fühlt sich hier selten willkommen“
„Man fühlt sich hier selten willkommen“, sagt Abuaisha, „die Menschen sehen in dir immer eher den Flüchtling als den Studenten.“ Das habe sich in den vergangenen Jahren verschlimmert. Abuaisha ist seit 2010 in Deutschland und seit 2014 in Freiberg. Abosteif schlägt in die gleiche Kerbe. „Die Blicke haben sich verändert“, sagt der 35-Jährige. Er glaube „die Menschen fühlen sich durch die letzte Wahl legitimierter in ihrer Ansicht.“ Sie würden sich nun eher trauen, ihrer Abneigung gegen Migranten wie ihn Ausdruck zu verleihen. Abuaisha berichtet sogar von Schikanen gegen ihn und seine Freunde. So hätten erst vor kurzem zwei Männer Sachen aus der Einkaufstüte seines Kumpels genommen und sie vor ihn auf den Boden geschmissen.
Umfrage: Hat der Rechtsstaat Ihrer Meinung nach versagt, als er die jüngsten Ausschreitungen in Chemnitz nicht verhindert hat?
An der Uni selber gibt es solche Vorfälle nicht, da sind sich die beiden Männer einig. „Die Studenten sind meistens international interessiert, haben eine offene Sichtweise auf alles“, erzählt der 35-jährige Abosteif, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter auch anderen Studierenden hilft. Da spiele die städtische Politik kaum eine Rolle.
Für Christian Schröder vom Studentenwerk Freiberg ist die Universität sogar in gewisser Weise abgekapselt von der Politik. Man versuche bestmöglich, sich „aus dem politischen Kontext herauszuhalten“, ergänzt er. Als Mitarbeiter des Studentenwerks habe er oft mit Studenten zu tun, die persönliche oder finanzielle Probleme hätten, bei denen ein hoher Beratungsbedarf bestehe. Fälle von Diskriminierung seien ihm daher bekannt, allerdings komme das sehr selten vor, sagt Schröder. Dass die Uni viel Wert auf interkulturellen Austausch lege, helfe in dieser Hinsicht enorm.
Auch das stadtweite Problem mit Drogenkriminalität habe die Uni bislang weitestgehend verschont. „Es kommt nicht oft vor, dass wir Probleme damit haben“, erzählt Schröder. Auch hier wisse er von bestimmten Fällen, aber meistens kämen die Studenten erst zu ihm oder seinen Kollegen, „wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist.“ Es werde sogar eine interne Statistik dazu geführt, diese könne Schröder allerdings nicht herausgeben.
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