
Es ist ein kühler Herbstabend vor wenigen Wochen. Drei Sozialarbeiter der Wohltätigkeitsorganisation Crescer schleppen sich einen steilen Abhang hoch. Die Organisation leistet Hilfe für Abhängige. Alle drei Mitarbeiter tragen Plastikbeutel voller sauberer Spritzen, Salzlösungen und Gebäck mit sich. In einem Rohrpflanzengebüsch finden sie ein halbes Dutzend Menschen, die Crack rauchen oder Heroin spritzen. Ein magerer Mann lehnt sich über seinen Begleiter, er hilft diesem dabei, sich eine lange Nadel in den Nacken einzuführen.
Marta Correia, eine Psychologin der Crescer, kennt die Mehrheit der Drogennutzer in Casal Ventoso beim Vornamen. Den mageren jungen Mann jedoch hat sie noch nie zuvor gesehen. „Nenn mich John Doe,“ sagt er und grinst. Er erklärt, dass er seit seinem 15. Lebensjahr Drogen nimmt, also seit etwa 25 Jahren. Ms. Correia gibt ihm ein Gebäckstück und einige Spritzen, im Gegenzug sammelt sie bereits benutzte Spritzen ein. Andere Nutzer bekommen Alufolie für ihre Pfeifen ausgehändigt. Allen wird nahegelegt, sich doch bitte in medizinische Behandlung zu begeben.
Problem ging durch alle Gesellschaftsschichten
Auf dem Höhepunkt der Drogenepidemie der 1990er Jahre schätzten die Behörden, dass circa 100.000 Portugiesen, oder 1 Prozent der Bevölkerung, regelmäßig Heroin nahmen. „Das ging im Querschnitt durch alle Gesellschaftsschichten,“ sagt Dr. João Goulão, der Vorsitzende von SICAD, der Behörde, die Portugals Suchtprogramm steuert. Dies habe den politischen Willen dazu befördert, die Verantwortung für den Kampf gegen Drogen vom Justizministerium an das Gesundheitsministerium zu übertragen.
Unter dem Gesetz von 2001 bleiben illegale Drogen zwar weiterhin illegal und Drogendealer werden verfolgt. Doch der Besitz von Drogen zum Eigenbedarf wird als Verwaltungsübertretung, und nicht als Straffall, klassifiziert. Jeder, der mit einer 10-Tages-Ration oder weniger erwischt wird, wird angewiesen, eine örtliche Kommission zur Verhinderung der Drogensucht aufzusuchen. Rehabilitierungsprogramme und Opiumersatze sind, für all diejenigen, die mit den Drogen aufhören wollen, frei erhältlich.
Regel Nummer eins: Keinen Schaden anrichten
Seitdem ist die Zahl der Heroinnutzer in Portugal auf 33.000 gesunken. Die Loorbeeren dafür heimst allerdings nicht nur ausschließlich die Regierung ein; Drogenepidemien verpuffen häufig von allein. Doch Entkriminalisierung und medizinische Behandlungen halfen sicher aktiv dabei, die Zahl der Tode durch Überdosen in Portugal rapide zu senken. Heute ist die Rate der tödlichen Überdosierungen in Portugal einer der niedrigsten in Europa. In den Vereinigten Staaten gab es alleine 2016 63.600 Drogentote. In Portugal waren es gerade einmal 27.
Die portugiesische Politik baut auf Konzepten der „Schadensreduktion“ auf, die in den 1980er Jahren zunächst in Ländern wie der Schweiz getestet worden waren. Die Grundidee hinter diesem Konzept ist, dass Behandlungen und Präventionsarbeit Vorrang gegeben werden sollte, erklärt Brendan Hughes von der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EBDD). Die meisten europäischen Länder unterhalten heute ein solches Schadenreduktionsprogramm, nur im Osten Europas ist das Verhältnis zu diesen ein wenig konservativer.
Sichere und saubere Injektionsräume
Manche europäische Länder gehen sogar noch einen Schritt weiter. Viele bieten sichere und saubere Injektionsräume, die von medizinisch geschulten Mitarbeitern unterhalten werden. Diese überprüfen mitgebrachte Rauschmittel auf ihre Reinheit hin. In Deutschland, den Niederlanden und der Schweiz können Suchtkranke, bei denen Methadon-Programme wiederholt nicht griffen, sogar von der Regierung verschriebenes Heroin bekommen. Die sogenannte „heroinassistierte Behandlung“ führt nachweislich zu einer Senkung der Kriminalitäts- und Todesraten. Neue Drogennutzer soll sie dabei eher abschrecken als anlocken: Wer sich seine Spritzen in einer Regierungseinrichtung und unter dem strengen Blick einer Krankenschwester setzen muss, büßt dabei wohl einiges an Glamour ein.
Doch seit kurzer Zeit sieht sich Europa mit immer neueren Arten von Rauschmitteln konfrontiert. Der Kokaingebrauch ist in die Höhe geschossen; Wasserproben aus Barcelona legen nahe, dass die Droge dort im Vergleich zu 2011 heute mehr als doppelt so häufig konsumiert wird. Die meisten Überdosierungen in den Niederlanden werden heute nicht durch Opiate verursacht, sondern durch Partydrogen wie Amphetamine und synthetische Cannabinoide, oder durch Ecstasy, eine Droge, die den Körper stark dehydrieren lässt. Ecstasy mag zwar die Libido stärken, schaltet den Körper des Nutzer jedoch auch schnell aus. Zwei Drittel der mit Drogen verbundenen Vorfälle in den Niederlanden standen alleine 2016 in Verbindung mit Ecstasy.
Crystal Meth auch in deutschen Städten
Für Rauschmittel wie diese, erklärt Andrew Cunningham von der EBDD, „gibt es leider keine Ersatzstoffe wie Methadon.“ Dasselbe gelte für Metamphetamine, die im Großteil Europas zwar selten vorkämen, nicht jedoch in der Slovakei und in Tschechien. (Dort sind die Drogen noch immer unter dem Namen „Pervitin“ bekannt. Diese Amphetaminsorte war im Zweiten Weltkrieg zu Zwecken der Aufputschung an deutsche Wehrmachtssoldaten verteilt worden.) In den letzten paar Jahren hat sich auch Meth aus Tschechien weit bis nach Deutschland hinein verteilt, hauptsächlich in Form von Pasten. Auch die gefährlichere Variante des Crystal Meth ist inzwischen in deutschen Städten aufgetaucht. Die Droge wird häufig an T-Shirt-Ständen nahe der deutschen Grenze verkauft.
Der Widerstand gegen die Entkriminalisierung kommt von vielen Seiten. Das moralistisch gestimmte Schweden unterhält strenge Gesetze sogar gegen den Besitz von Kleinstmengen an Drogen. Dies sei laut Experten einer der Gründe dafür, dass Schweden die europaweit zweithöchste Rate der Drogentode hat. Nur in Estland sterben mehr Menschen an Überdosierungen. Drogennutzer schämen sich für ihre Sucht und schrecken davor zu rück, sich um professionelle Hilfe zu bemühen. In Polen gibt es zwar Austauschstellen für Spritzen, doch unter der momentanen konservativen Regierung des Landes fiel die Zahl der ausgegebenen Nadeln alleine 2016 mysteriöserweise knapp um die Hälfte. In Kopenhagen führte die Polizei laut Berichten erst im letzten Sommer eine Razzia in der anarchistischen Gemeinschaft Christiania durch. Der Verkauf von Cannabis war dort lange inoffiziell geduldet worden.
In anderen Ländern – darunter viele US-Bundesstaaten – vollständige Legalisierung
Das harte Durchgreifen gegen Cannabis wirkt wie eine seltsame Maßnahme, vor allem in einer Zeit, in der viele Länder und amerikanische Bundesstaaten die Droge vollständig legalisieren. Die Politik der Schadensbegrenzung begann in den 1970er Jahren, als die niederländische Regierung damit begann, den Verkauf von Mariuhana in designierten „Coffee shops“ zu dulden. Doch vielsagenderweise entkriminalisierte das Land die Belieferung der „coffee shops“ nie, sodass der Cannabishandel insgesamt illegal blieb. „Diese Regelung macht überhaupt keinen Sinn,“ sagt Peter Schouten, ein niederländischer Anwalt, der hofft, einer der ersten legitimen Mariuhanabauern werden zu können, sobald im nächsten Sommer ein entsprechendes Pilotprogramm an den Start geht.
Viele der europäischen Bemühungen um Entkriminalisierung und Schadensbegrenzung bleiben auch weiterhin unvollständig. Américo Nave, der Vorsitzende von Crescer, kritisiert die portugiesische Regierung dafür, bisher noch keine sicheren Injektionsräume eingerichtet zu haben und Sozialarbeitern zu untersagen, das Medikament Naloxon mit sich zu führen. Eine schnell verabreichte Naloxon-Injektion kann Heroinnutzern im Falle einer Überdosis das Leben retten. Ms. Correia erzählt, sie habe erst im letzten Dezember gesehen, wie ein Mann auf offener Straße starb. Als sie bei ihm gesessen habe, sei ihr nie aus dem Kopf gegangen, dass Naxolon den Mann hätte retten können. Trotzdem ist dieser Todesfall einer von nur wenigen Dutzenden pro Jahr in Portugal. In Schweden dürften es im selben Zeitraum etwa zehn mal so viele Tode gewesen sein.
Dieser Artikel erschien zuerst in der Europa-Rubrik der Printausgabe des Economist unter der Überschrift „Chill Pill“ und wurde von Lukas Wahden aus dem Englischen übersetzt.
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*Der Beitrag "Während US-Staaten Cannabis legalisieren, greifen viele Europäer weiter hart durch" stammt von The Economist. Es gibt keine redaktionelle Prüfung durch FOCUS Online. Kontakt zum Verantwortlichen hier.
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