Die Liste der Pannen bei den Ermittlungen im Missbrauchsfall auf einem Campingplatz in Lügde (NRW) wird immer länger. Erst jetzt wird bekannt, dass Beweismaterial aus der Polizeibehörde seit Wochen verschwunden ist und ein unerfahrener Anwärter für die Beweisauswertung eingesetzt wurde. FOCUS Online gibt einen Überblick über das Behörden-Versagen.
Doch damit nicht genug: Es wurden Akten manipuliert, die Polizei ermittelte trotz eindeutiger Hinweise nicht, Jugendämter schlampten.
FOCUS Online gibt einen Überblick über das Behörden-Versagen vor und nach Bekanntwerden des Skandals.
Der Fall:
Auf einem Campingplatz in Lügde soll der 56 Jahre alte Andreas V. aus Lügde über viele Jahre hinweg Kinder sexuell missbraucht haben. Bislang sind 31 Opfer im Alter zwischen 4 und 13 Jahren identifiziert. Der Mann aus Lügde hatte 2016 die Tochter eines Bekannten als Pflegekind bekommen. Sie diente als Lockvogel für die Kinder und gehörte auch zu den Opfern. Der Hauptverdächtige sowie ein 33 Jahre alter Mann sollen die Taten gemeinsam begangen haben, ein weiterer Mann soll übers Internet Anweisungen gegeben haben. Im November 2018 kamen die Ermittler den Männern auf die Schliche. Alle drei sitzen in Untersuchungshaft.
In dieser Woche erhöhte sich die Zahl der Beschuldigten dann auf insgesamt sieben: Ein 16-Jähriger soll Kinderpornograhie besessen haben, die auf dem Campingplatz entstand. Es werde aber auch geprüft, ob der Minderjährige möglicherweise selbst Opfer von Missbrauch wurde, teilten die Ermittler am Mittwoch mit.
15-Jährige soll vergewaltigt worden sein - Verfahren wurde eingestellt:
In dieser Woche wurden neue Straftaten bekannt. Der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul (CDU) berichtete im Landtag von einer mutmaßlichen Vergewaltigung einer 15-Jährigen auf dem Campingplatz im vergangenen Jahr. Die Ermittlungen waren zunächst eingestellt worden, obwohl die Jugendliche einen Tatverdächtigen identifiziert hatte. Der Fall solle nun wieder aufgerollt werden, kündigte der Minister an. Aus welchen Gründen das Verfahren eingestellt wurde, wurde zunächst nicht bekannt.
Möglicherweise gibt es einen weiteren, sehr viel weiter zurückliegenden Fall, der aber bislang nie zur Anzeige gebracht wurde. Gegenüber der "Süddeutschen Zeitung" berichtete eine heute 39 Jahre alte Frau, sie habe 1996 auf dem Campingplatz gelebt, als sie 17 Jahre alt war. Der Hauptverdächtige in dem Missbrauchsfall habe sie mehrfach geschlagen. Außerdem habe er sie, als sie elf Jahre alt war, "angefasst". Sie habe ihrem Vater und ihrer Großmutter damals davon erzählt, die ihr jedoch nicht geglaubt hätten. Die Frau ist laut "SZ" die Mutter der Jugendlichen, die 2018 auf dem Campingplatz vergewaltigt worden sein soll. Der Täter stamme aus dem Umfeld der beiden Hauptverdächtigen von Lügde, heißt es weiter.
Polizei gab Fälle nicht an Staatsanwaltschaft weiter:
Der Hauptverdächtige Andreas V. soll vor Jahren schon wegen möglichen Kindesmissbrauchs aufgefallen sein. Im Januar 2002 habe die Polizei wegen Missbrauchs einer Achtjährigen ermittelt. Offenbar sei aber kein Verfahren eingeleitet worden, so Innenminister Reul. Wie die "SZ" berichtet, gab es 2008 erneut einen Hinweis auf Kindesmissbrauch durch Andreas V. Laut Ermittlern sei der Vorgang zwar wie vorgeschrieben von der Polizei aufgenommen worden, aber nicht an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet worden.
Polizeianwärter wertete Beweise aus:
Die Polizei setzte ausgerechnet einen unerfahrenen Anwärter für diesen Fall ein. Das berichtet die "Rheinische Post“. Ein Sprecher des Innenministeriums bestätigte gegenüber der Zeitung: „Es ist richtig, dass im Fall Lügde ein Polizeianwärter mit der Auswertung des sichergestellten Beweismaterials beauftragt worden ist.“
Beweisstücke verschwunden:
Das Innenministerium in Düsseldorf hat nun mitgeteilt, dass ein Alukoffer und eine Hülle mit 155 Datenträgern in der verantwortlichen Kreispolizeibehörde Lippe vermisst würden. Am 20. Dezember seien die Asservate zuletzt gesehen worden. Aber erst am 30. Januar sei der Verlust bemerkt worden. „Man muss hier klar von Polizeiversagen sprechen“, sagte Innenminister Herbert Reul.
Polizisten ermittelten nicht:
Im Jahr 2016 hatte ein Vater Polizei und Jugendamt auf den Hauptverdächtigen aufmerksam gemacht, denn Andreas V. soll die Töchter des Mannes unsittlich angefasst haben. Wenige Wochen später meldete sich eine Jobcenter-Mitarbeiterin. Ihr gegenüber hatte Andreas V. verstörende Aussagen in Bezug auf Kinder und Sexualität gemacht. Doch die Polizei ermittelte in beiden Fällen nicht.
Die Staatsanwaltschaft in Detmold ermittelt deshalb gegen zwei Polizeibeamte. Es werde genau geprüft, ob sie die Verdächtigen möglicherweise persönlich kannten.
Jugendamt beließ Pflegetochter bei Tatverdächtigen:
Auch die beiden Jugendämter der Kreise Lippe und Hameln-Pyrmont kannten die Hinweise des Familienvaters und der Jobcenter-Mitarbeiterin. Zudem konnten sie bei ihren Besuchen auf dem Campingplatz feststellen, in was für einem desolaten äußeren Zustand die Behausung von Andreas V. war, in der das Pflegekind aufwuchs. Trotzdem nahmen sie das Mädchen nicht aus der Obhut ihres Pflegevaters. Deshalb wird jetzt bei mehreren Mitarbeitern der Jugendämter geprüft, ob sie ihre Fürsorgepflicht verletzten.
Akten manipuliert:
Der Landkreis Hameln-Pyrmont hat einen Jugendamtsmitarbeiter wegen der Manipulation von Akten freigestellt. Außerdem sei die Staatsanwaltschaft informiert worden, hieß es. Der Mitarbeiter habe eingeräumt, einen Vermerk nachträglich in Akten des Jugendamtes einsortiert zu haben. „Er wollte die Akte um einen fehlenden Vermerk ergänzen und so die Akte vervollständigen.“ Der Landkreis habe eine interne Prüfung eingeleitet. Welche Relevanz der Vermerk für den Fall hat, teilte der Landkreis nicht mit.
Wie geht es weiter?
Ein Sonderermittler mit vier Mitarbeitern wurde eingesetzt, um den Verbleib der Datenträger aufzuklären. Die Ermittlungen, was die Tatverdächtigen angeht, wurden bereits wegen der Größe des Falls dem Polizeipräsidium Bielefeld übertragen. Das gesicherte Material reiche aus, um die Tatverdächtigen zu überführen, sagte Reul. Es ist möglich, dass noch im Frühjahr Anklage erhoben wird. Ein möglicher Prozess könnte dann womöglich noch im ersten Halbjahr beginnen.
Die SPD-Opposition sieht bereits genug Stoff für einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss. Minister Reul sagte mit Blick auf die Polizeifehler: „Was hier passiert ist, tut mir unendlich leid.“ Er könne im Namen der Polizei NRW und der Landesregierung bei den Opfern und Angehörigen „nur vielmals um Entschuldigung bitten“. Und Lippes Landrat Axel Lehmann fügt hinzu: „Die Fehlleistungen machen auch mich fassungslos.“
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