
Das Mantra des arabischen Frühlings ist zurückgekehrt. "Die Menschen wollen, dass das Regime verschwindet", sangen hunderttausende Demonstranten in Algerien. Sie haben gehofft, dadurch die 20 Jahre andauernde Herrschaft von Abdelaziz Bouteflika beenden zu können.
Ihr Aufschrei hallte im Sudan wider. Die drei Monate andauernden Demonstrationen haben das Regime von Omar al-Bashir, dem Anführer der letzten drei Jahrzehnte, ins Wanken gebracht. Demonstranten im Irak, in Jordanien, im Libanon, in Marokko, in Tunesien und in den palästinensischen Gebieten haben kürzlich auch besseres Regierungshandeln gefordert. Fünf Jahre nachdem die Obrigkeit der Region sie zum Schweigen gebracht hat, haben die Menschen auf den arabischen Straßen ihre Stimme zurückgewonnen.
Dadurch wurde die Diskussion über eine Fortsetzung des arabischen Frühlings wieder angeheizt. Wie schon 2011 waren die Proteste auch diesmal spontan, integrativ und es gab keine Anführer. Es sind die gleichen Missstände, die auch heute wieder für Unruhen sorgen. Aber der Kontext könnte nicht gegensätzlicher sein.
Das Chaos und die Kriege, die auf den arabischen Frühling folgten, haben dafür gesorgt, dass die Begeisterung unter den Aktivisten und ihren regionalen Förderern schwindet. Gleichzeitig haben die Autokraten ihre Unterdrückungsstrategie noch verschärft, um die Proteste in ihrer Heimat niederzuschlagen und um zu verhindern, dass sich die Demonstrationen auf andere Gebiete ausweiten. "Sie haben die gesamte Region umgepolt, um einen weiteren arabischen Frühling zu verhindern", sagt Marc Lynch von der George Washington Universität.
Bündnis mit Syrien und al-Assad
Die Türkei, der Iran und Katar haben 2011 dabei geholfen, das Gedankengut zu verbreiten. Aber ihre eigenen Sicherheitsbedenken haben ihre Ambitionen für die Region überschattet. Die Vormachtstellung von Präsident Recep Tayyip Erdogan wurde durch die Proteste 2013 und den Putschversuch drei Jahre später noch gefestigt. Das islamistisch geprägte demokratische Modell, das er einst propagiert hat, ähnelt zunehmend dem autoritären Regierungssystem, das er früher verhöhnt hat.
Irans Machthaber waren bestrebt, die Flamme des arabischen Frühlings wieder auflodern zu lassen – bis ihr Bündnis mit Syrien und Bashar al-Assad dadurch in Gefahr geriet. Auch das Regime im Iran wurde durch Proteste in der Heimat ins Wanken gebracht. Katar hat jedoch die umfangreichste Kehrtwende vollzogen. Da es von seinen Nachbarn belagert wird, braucht das Land nun jeden einzelnen Freund, den es für Geld kaufen kann. Im Februar war Bashir (Präsident Sudans, Anm. d. Red.) bei ihnen zu Gast und Katar hat kein Wort über die Probleme in Algerien verloren.
Vor acht Jahren war Al Jazeera, der Satellitensender aus Katar, eine Plattform für den arabischen Frühling. Mit seinen fortlaufenden Berichten und mitreißenden Werbespots heizte der Sender die Proteste an und machte Geschichten für die ganze Region. Seine Berichterstattung über die Unruhen in Algerien und im Sudan - Platz zwei und drei der bevölkerungsreichsten Länder in der arabischen Welt – war jedoch dürftig.
Nachrichtensprecher schildern die Proteste als singuläre Ereignisse, die an der Peripherie der arabischen Welt stattfinden. Einige weisen auf die Eigenheiten der algerischen Sprache hin. (Viele Araber verstehen den Dialekt nicht.) "Sie verschweigen absichtlich die Zusammenhänge", sagt Ahmed Mustafa, der die arabischen Medien in Abu Dhabi überwacht.
Despoten, die sich die ganze Zeit gegen einen Umbruch gewehrt haben, haben die unabhängigen Medien niedergerungen. Ministerien für Information diktieren die Schlagzeilen, untersagen ausländischen Journalisten die Berichterstattung und schikanieren lokale Reporter, die nicht kooperieren wollen.
Das digitale Duell
Investigative Reporter und Regimekritiker werden in den staatlichen Medien häufig als Terroristen und Verräter gebrandmarkt. Einige von ihnen werden gefoltert. Saudi-Arabien hat eine "schnelle Eingreiftruppe" ins Leben gerufen, um diejenigen zu verfolgen, die fliehen wollen. Wie beispielsweise Jamal Khashoggi, einen ehemaligen saudischen Zeitungsredakteur, der in Saudi-Arabiens Konsulat in Istanbul ermordet und zerstückelt wurde.
Soziale Medien, der Motor des arabischen Frühlings, sorgen immer noch dafür, dass Menschen in Scharen auf die Straße gehen. Algerien weist eine der höchsten Facebook-Nutzerzahlen der Region auf. Gekoppelt mit dem vielleicht technisch am wenigsten versierten Regime. "Ihr mangelndes Wissen hat einen Freiraum geschaffen", sagt Ashraf Zeitoon, Leiter von Facebooks Strategieabteilung in der Region.
Trotzdem gibt es bislang keine griffigen Hashtags, die die Proteste in den verschiedenen Ländern miteinander verbinden würden. Und gerissene Autokraten wissen mittlerweile die sozialen Medien zu ihrem Vorteil zu nutzen.
Golfstaaten richten Trollfabriken ein
Saudi-Arabien und andere Golfstaaten haben Trollfabriken eingerichtet (Bürogebäude voller Computerfreaks, die hunderte von gefälschten Social-Media-Konten befüttern) und Bots (automatisierte Datenverarbeiter), um offizielle Diskussionsthemen unter die Leute zu bringen. Einschüchterungsversuche mittels Spionagesoftware, durch Hacker, beleidigende Kommentare oder einfach durch Inhaftierungen haben dafür gesorgt, dass es weniger opponierende Meldungen gibt.
Die Regierungen haben zudem die altbewehrte Unterdrückung verschärft. Am Vorabend der größten Demonstration in Algerien warnte der ägyptische Präsident Abdel-Fattah al-Sisi vor "Krawalle" durch Trittbrettfahrer. Ein Politiker in Bahrain wurde kürzlich zu sechs Monaten Haft verurteilt, weil er Bashirs Rücktritt gefordert hatte. Viele Länder verbieten große Versammlungen komplett.
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Gleichzeitig sind die Regierungen durch die vage formulierten Sicherheitsgesetze, die nach dem arabischen Frühling erlassen wurden, befähigt, vermeintliche Volksverhetzer zusammenzutreiben. "Der Einsatz von scharfer Munition, selbst bei kleinen, symbolischen Protesten, hat dafür gesorgt, dass die abweichenden Meinungen auf Null reduziert wurden", sagt Sarah Leah Whitson vom Interessenverband "Human Rights Watch".
Weniger eng verbunden zu sein ist nicht unbedingt eine schlechte Sache für die heutigen Demonstranten. Die Leute in Algerien und im Sudan sind stolz auf ihre Unabhängigkeit und ihren Nationalismus. Wenigstens sind sie jetzt disziplinierter und lehnen Gewalt ab.
"Wir sind nicht Syrien oder Libyen", skandieren sie in Algerien. Gleichzeitig warnen eigennützige Machthaber vor dem Chaos und dem Blutvergießen. Es sieht nicht danach aus, als würden die Demonstranten bald zu Hause bleiben. Emile Hokayem vom Internationalen Institut für strategische Studien, einer Denkfabrik aus London, bezweifelt, dass man die Demonstranten dazu bringen kann: "Dass die Welle der Straßenproteste abebbt und sich wieder aufbäumt ist in der Region zum Normalzustand geworden."
Dieser Artikel erschien zuerst beim Economist und wurde von Patrick Steinke aus dem Englischen übersetzt.
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*Der Beitrag "Gerissene Autokraten: Wie arabische Regime die neuen Proteste unterdrücken" stammt von The Economist. Es gibt keine redaktionelle Prüfung durch FOCUS Online. Kontakt zum Verantwortlichen hier.
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