In ihrem neuen Buch "Die Scheinkrise: Warum es uns besser geht als je zuvor und wir dennoch das Gefühl haben zu scheitern" erklären Kay Bourcarde und Karsten Herzmann, warum sich immer mehr Menschen in Deutschland vom Wohlstand abgehängt fühlen, obwohl es dem Land so gut geht wie je zuvor. Lesen Sie hier einen Auszug.
Zurück zu der Eingangsfrage, nämlich wie hoch wir die Messlatte für unseren wirtschaftlichen Erfolg anlegen. Eigentlich ist jede Steigerung der Wirtschaftskraft ein gewisser Erfolg. Wir vergleichen nun aber gerade nicht die Höhe der Wirtschaftskraft miteinander, sondern deren Wachstum, also bereits das Ausmaß der Verbesserung.
Im letzten Kapitel haben wir gesehen, wie sich dies auf die Bewertung unseres wirtschaftlichen Erfolges auswirkt: Indem man nicht den Ist-Zustand der Wirtschaftskraft zweier Jahre, sondern das Ausmaß ihrer Verbesserung einander gegenüberstellt, kann ein ‚Weniger an Mehr‘ als ein tatsächliches ‚Weniger‘ wahrgenommen werden. Weil etwas langsamer vorwärts kommt als zuvor, entsteht der Eindruck, es ginge zurück.
Falsche Wahrnehmung
Nun gehen wir jedoch noch einen Schritt darüber hinaus. Denn der Maßstab ist wie gesehen nicht das absolute Wachstum, sondern die Wachstumsrate. Ein so verstanden gleich hohes Wachstum haben wir aber nur, wenn die Rate konstant bleibt. Dies allerdings erfordert ein sich immer stärker beschleunigendes Wachstum. Daher wird nicht nur ein ‚Weniger an Mehr‘ als ein tatsächliches ‚weniger‘ wahrgenommen, sondern bereits ein nur ‚konstantes Mehr‘ würde zu dem Eindruck führen, es ginge zurück.
Dennoch ist die Wachstumsrate nach wie vor der zentrale Indikator, an dem der Gesundheitszustand unserer Volkswirtschaft festgemacht wird. Die daran anknüpfende Diagnostik kann man sich vielleicht am besten als eine Art umgekehrtes Fieberthermometer vorstellen: Ein Absinken der Raten zeigt an, dass die Volkswirtschaft akut kränkelt. Sinken sie immer weiter, so verschärft sich die Krankheit und wird irgendwann als chronisch angesehen.
Wirtschaftliche Kennziffer verwirrt
Als vor etwa fünfzehn Jahren das Bild von Deutschland als „kranker Mann Europas“ die Runde machte, analysierte der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung dementsprechend: „Festgemacht wurde das Krankheitsbild im Wesentlichen an einer Kennziffer: der Veränderungsrate des realen Bruttoinlandsprodukts.“
Um das zu erreichen, was in all jenen Reden, Wahlprogrammen und Diskussionsrunden gefordert wird, die wir uns im ersten Kapitel angesehen haben, reicht es deshalb entgegen dem dabei vermittelten Eindruck nicht aus, wenn wir zu alter Stärke zurückfinden. Was wir für eine in diesem Sinne gesunde Volkswirtschaft brauchen, ist ein immer rasanterer Leistungsanstieg. Forderte also Roman Herzog in seiner Ruck-Rede, dass wir ein genauso kräftiges Wachstum wie in der Vergangenheit haben sollten, wünscht er sich tatsächlich, dass unser heutiges das frühere Wachstum weit überträfe. Strebten Schröder und Merkel immer neue Reformen an, die zwar „allen wehtun“, mit denen aber endlich „Wachstumsbremsen gelöst“ werden, dann wollten sie eigentlich nicht nur, dass wir heute endlich wieder genauso rasch vorankommen wie in der Vergangenheit.
Schneller, höher, weiter
Nein, was implizit, meist wohl unbewusst, aber quer durch die politische und wirtschaftswissenschaftliche Landschaft erwartet wird, ist, dass wir immer schneller immer besser werden. Insoweit ist der Name eines des vielen Reformgesetze, das „Wachstumsbeschleunigungsgesetz“, mit dem die Regierung Merkel II ihre Amtsperiode antrat, unfreiwillig besonders zutreffend: Es geht in Sachen Wachstum nicht nur um das Lösen von Bremsen, sondern um einen immer kräftigeren Tritt aufs Gaspedal.
Das Ziel ist, das Wachstum ständig weiter zu beschleunigen. Und nur wenn uns dies gelingt, also wenn wir immer schneller besser werden, entsteht aufgrund der Fokussierung auf die Wachstumsraten der Eindruck eines gleichbleibenden Erfolgs. Damit wird deutlich, wie hoch wir die eingangs erwähnte Messlatte für unseren volkswirtschaftlichen Erfolg anlegen. Wir legen sie nämlich nicht einfach nur hoch an. Vielmehr hängen wir sie, ohne dass es uns recht bewusst ist, immer schneller immer höher. Und nur wenn wir es schaffen, diese dennoch zu überspringen, haben wir den Eindruck, genauso gut zu sein wie bisher.
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Die naheliegende Frage lautet: Wie lange wird uns dies noch gelingen? Wie lange können wir dank großen Einsatzes und schmerzhafter Reformen das exponentielle Wachstum – von den einen als Ausdruck unserer Leistungsfähigkeit begrüßt, von den anderen als ökologisch unverantwortlich abgelehnt – noch durchhalten?
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