Vor 15 Jahren begann die Erweiterung der Europäischen Union nach Osten. Wem hat sie genutzt, wo hat sie geschadet? Was haben Fischstäbchen in Tschechien und ein Meter Autobahn in Rumänien damit zu tun? Und warum ist der Erste Weltkrieg nach 100 Jahren noch präsent? Hier die Bilanz mit den Antworten.
Für eine Bilanz der EU-Ost-Erweiterung ist es klug, auf Stimmen aus Österreich zu hören. Denn große Teile des Territoriums, um das die EU sich 2004, 2007 und 2013 nach Osten und auf den Balkan schob, gehörten vor dem Ersten Weltkrieg zum Herrschaftsgebiet und Einflussbereich der Wiener Donau-Monarchie. Das hat man auch in Budapest nicht vergessen. Dazu später mehr.
Zunächst der Blick von der Hofburg: Realistischerweise muss selbst der Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik, Paul Schmidt, in einem Beitrag für die „Wiener Zeitung“ feststellen, es handle sich bei der Integration der neuen EU-Mitgliedsländer um einen „noch lange nicht abgeschlossenen Prozess“.
"Beitrittskandidaten haben keinen einzigen wesentlichen Fortschritt verhindert"
Der frühere österreichische Spitzendiplomat Stefan Lehne beobachtet in einer Analyse für den Think Tank Carnegie Europe über die Ost-Erweiterung: „Was einst für eine historische Errungenschaft gehalten wurde, wird jetzt kritischer betrachtet. Viele in West-Europa glauben mittlerweile, die EU sei zu weit und zu schnell vergrößert worden.“
„Es waren die Niederlande und Frankreich, die eine europäische Verfassung ablehnten, nicht die neuen EU-Mitglieder. Auch die Euro- und Finanzkrise war nicht deren Schuld, vielmehr sind sie im Gegenteil ihr Opfer geworden.“
Östliche Profiteure "fühlen sich als Mitglieder zweiter Klasse"
Ein Effekt der Ost-Erweiterung ist unumstritten: Die Beitrittsländer haben wirtschaftlich von ihr profitiert. Bereits in den ersten fünf Jahren nach der ersten Erweiterungsrunde 2004 waren ihre Wachstumsraten doppelt so hoch wie die der alten EU-Mitglieder. Allerdings kamen sie von niedrigem Niveau und hatten großen Aufholbedarf.
Der immer noch existierende Abstand zum Westen verkleinert sich rapide, wie eine Bestandsaufnahme der EU-Kommission ergab. Verheugen warnt dennoch: „Es gibt nach wie vor große materielle und immaterielle Unterschiede zwischen den älteren und jüngeren Mitgliedern der Union. Letztere fühlen sich immer noch als Mitglieder zweiter Klasse zu wenig wertgeschätzt.“
Das Problem beschäftigt die EU schon seit Jahren, mit Etappensiegen für den Osten. Hersteller sollen jetzt mindestens besser über Unterschiede informieren.
Ein neuer Ost-Block?
Das fischige Thema vereinte die Osteuropäer, die Kritiker der Erweiterung immer öfter als sperrigen Block innerhalb der alten EU-Wertegemeinschaft wahrnehmen.
Viele bulgarische, tschechische, slowakische, slowenische, polnische, kroatische und natürlich ungarische Europa-Abgeordnete sperren sich dagegen, Ungarn wegen seiner Abweichungen von rechtsstaatlichen EU-Vorgaben härter anzufassen. Auch Polen steht unter kritischer Beobachtung.
Doch der österreichische Balkan- und Mitteleuropa-Experte Lehne gibt zu bedenken: „Abgesehen von ihrer gemeinsamen Geschichte als Teil des sowjetischen Imperiums und ihren relativ geringen Prokopf-Einkommen haben die mittelosteuropäischen Länder wenig gemein.“
An Russland scheiden sich die Geister
Bulgarien und Rumänien befinden sich nicht nur geografisch am Rande der EU, sondern auch bei der Korruptions- und Kriminalitätsbekämpfung.
Tschechien, Ungarn, Polen und die Slowakei haben sich im Verband der Visegrad-Staaten zusammengefunden, der vor allem in der Einwanderungspolitik mehr oder weniger mit einer Stimme spricht. Andererseits sind diese Staaten daran interessiert, die Freizügigkeit innerhalb der EU zumindest für ihre eigenen Bürger auf der Suche nach besserbezahlten Jobs im europäischen Ausland nicht eingeschränkt zu sehen.
Polen bremst die Klimapolitik der EU im Interesse der heimischen Kohlewirtschaft.
„Ein gewisser Mangel an demokratischer Kultur“
So ist das Bild vielfältig, Probleme in einzelnen Beitrittsstaaten jedoch deutlich benennbar. Auch Verheugen muss zugeben: „Es war bekannt, dass in Rumänien und einigen anderen Ländern noch ein gewisser Mangel an demokratischer Kultur herrschte. Es war trotzdem richtig, sie in die EU zu holen. Das war die einzige Möglichkeit, ihre Entwicklung positiv zu beeinflussen.“
Im erwähnten Rumänien gelang das nur bedingt. Wie viele – nicht nur osteuropäische – Länder profitiert es von EU-Förderung. Doch allzu viel davon versickert. Auch das geschieht überall in der EU ebenso. Die Regierung in Bukarest fällt derzeit jedoch besonders unangenehm auf, auch weil sie gerade den Ratsvorsitz der EU innehat.
Die Kritik kommt nicht nur aus Brüssel, sondern vom eigenen Staatspräsidenten. Klaus Johannis, Angehöriger der deutschsprachigen Minderheit der Siebenbürger Sachsen, verknüpft die Europawahl Ende Mai mit einem Referendum über rechtsstaatliche Mankos und Defizite bei der Korruptionsbekämpfung.
Unternehmer ließ einen Meter Autobahn auf eigene Kosten bauen
Die rumänische Regierung ist geführt von eigenwilligen Sozialdemokraten, die sich nur schwer von alter Günstlingswirtschaft trennen können. Die staatliche Korruptionsbekämpferin Laura Codruta Kövesi wurde geschasst, ihr Aufstieg zur Europäischen Generalstaatsanwältin soll verhindert werden. Nach Lesart der Regierung macht Johannis, früher Bürgermeister der alten siebenbürgisch-sächsischen Metropole Hermannstadt (Sibiu), nur Stimmung für seine eigene Wiederwahl später in diesem Jahr.
Die europäischen Staats- und Regierungschefs könnten sich nächste Woche bei ihrem Sibiu-Gipfel davon überzeugen, wie groß der Unterschied zwischen dem teils herausgeputzten Hermannstadt und der ländlichen Umgebung ist. Wenn sie mehr sehen würden als nur Flughafen, Vorzeige-Innenstadt und Sitzungssäle.
Über die Jahre hat Brüssel hohe Summen für den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur nach Bukarest überwiesen. Dennoch kämpft der Gastronomie-Unternehmer Stefan Mandachi im entwicklungsbedürftigen Nordosten des Landes einen einsamen Kampf für mehr Autobahnen. Kürzlich ließ er aus Protest auf eigene Kosten einen Meter davon bauen. Für 4500 Euro.
Das offizielle Preisticket der Bukarester Regierung für spärliche vergleichbare Leistungen fällt wesentlich höher aus. Rumänien ist mit nicht einmal 800 Autobahnkilometern Schlusslicht in der EU, Reisen mit dem Auto teilweise abenteuerlich.
Verheugen kann sich nicht erklären, wie Ungarn so abdriften konnte
Erweiterungs-Mastermind Verheugen mag Recht damit haben, dass solche Entwicklungen Kollateralschäden einer politisch notwendigen Wiedervereinigung Europas mit seinen alten Kulturräumen sind, die jahrzehntelang hinter dem Eisernen Vorhang schmachteten. Doch auch er stößt bei manchen Entwicklungen an Verständnisgrenzen. „Ein für mich unerklärlicher Fall ist Ungarn. Ich habe Orban schon im Juni 1989 als mutigen Studentenführer und klugen Mann kennen gelernt. Ich kann mir nicht erklären, was mit ihm passiert ist.“
Der ungarische Ministerpräsident Victor Orban hat einen bemerkenswerten Wandel in der Außenwahrnehmung seines Landes bewerkstelligt, vor allem in Deutschland. Im Wendesommer 1989 überfluteten Trabi-Pilgerwellen Ungarn, das die Grenzzäune öffnete. Budapest galt hierzulande als freiheitsgesinnter Hoffnungsort, vergesellt von der katholisch und gewerkschaftlich inspirierten antikommunistischen Beharrlichkeit in Warschau und einem Botschaftsbalkon in Prag, von dem DDR-Bürger die Nachricht über ihre freigegebene Ausreise empfangen durften.
Und heute? National-konservative Kräfte in Ungarn, Polen und Tschechien scheinen sich immer weiter von demokratischen Tugenden zu entfernen. Die Europäische Kommission äußert sich besorgt über staatlich gelenkte Konzentrationstendenzen in der ungarischen Presse, die den böswilligen Begriff „Gleichschaltung“ mindestens nahelegen.
Spätwirkungen des sowjetischen und Osmanischen Reichs
Wie also weiter? Voreilige Verurteilungen der Entwicklungen in Mittelosteuropa sind geschichtsvergessen. Mit gewisser Berechtigung appellieren Vaterlands-Apostel dort ans Nationalgefühl. Jahrzehnte sowjetischer Vorherrschaft und Jahrhunderte anderer Hegemonie haben schmerzhafte Spuren hinterlassen. Man will neugewonnene nationale Eigenständigkeit nur sehr bedingt Brüssel unterordnen.
Die Ungarn fühlen sich noch heute als die großen Verlierer des Ersten Weltkriegs. Er schwächte Bindungen, die mit substanziellen ungarischen Minderheiten rund um das heutige Staatsgebiet bestehen und in ein frühmittelalterliches Großreich zurückreichen, das sich als Bollwerk des Christentums verstand.
Um es wiederum mit einem Österreicher zu sagen, der auch aus der kaiserlich und königlichen (k. u. k., für Kaiserreich Österreich und Königreich Ungarn) Vergangenheit schöpft: „Mittel- und Osteuropa waren einst der ethnisch vielgestaltigste Teil des Kontinents“, hält Lehne fest. „Aber als Folge von Massenmord, Vertreibungen und Grenzverschiebungen während des Zweiten Weltkriegs sind sie nun ethnisch geschlossener als die meisten anderen Regionen Europas.“
Er fügt hinzu: „Zumeist resultieren die Probleme aus Schwächen der Regierungsführung, die in manchen Fällen Jahrhunderte zurückreichen, wie in vielen Teilen des hochgradig dezentralisierten Osmanischen Imperiums.“ Zu dem gehörte übrigens auch Griechenland.
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