Boris Palmer, 46, hat Spaß daran, die Dinge anders zu machen. Immer wieder provoziert Tübingens grüner Oberbürgermeister mit seiner konservativen Haltung die eigene Partei. Dafür wurde er aus den eigenen Reihen auch schon mal als „idiotisch“ beschimpft. Die Grüne Jugend wollte ihn sogar aus der Partei werfen.
In Tübingen kommt Palmer dagegen gut an. Seit über zwölf Jahren ist der gebürtige Waiblinger im Amt. Er hat die einst eher unscheinbare Universitätsstadt zu einem prosperierenden Standort für KI-Start-ups und Biotechnologiefirmen weiterentwickelt.
Digitale Idee
Jetzt hat Palmer wieder eine Idee. Das Stadtoberhaupt möchte die Demokratie auf kommunaler Ebene stärken. Und vor allem die Bürger wieder mehr in politische Entscheidungsprozesse einbinden. Das funktioniert im Jahr 2019 am besten digital. Gemeinsam mit der schwäbischen Firma Aaronprojects hat die Gemeinde Tübingen die deutschlandweit erste Abstimmungs-App entwickelt.
Per Klick in der Stadt mitbestimmen, Kommunalpolitik auf dem Smartphone – ist das ein Gegengift wider die Politikverdrossenheit, sogar die Zukunft der Demokratie?
Meinungen von Bürgern
Vergangenes Jahr fand das ZDF-„Politbarometer“ heraus, dass nur 33 Prozent der Bevölkerung damit zufrieden sind, wie in Deutschland Politik gemacht wird. Viele Menschen haben das Gefühl, ihre Meinung spiele bei kommunalen Entscheidungen nur bei Wahlen eine Rolle. Ein kleiner Kreis von Politikern und Gemeinderatsmitgliedern entscheide am Ende über die Verteilung des begrenzten Budgets, lautet der Vorwurf.
Das soll sich mit der neuen App in Tübingen ändern. Vorbild ist das direktdemokratische Schweizer Modell. „Ich habe mir schon lange gewünscht, das Internet auch für Abstimmungen nutzen zu können“, sagt Palmer. „Wenn sich die ganze Welt digitalisiert, kann die Demokratie nicht bei Bleistift und Papier stehen bleiben.“ Die Entwicklung der App hat rund 200.000 Euro gekostet. 73.000 Euro bezuschusste das Digitalisierungsprogramm des Landes Baden-Württemberg.
12.000 Personen nahmen bei erster Abstimmung teil
Für die Abstimmung müssen Daten aus dem Einwohnermelderegister auf die Smartphone-App übertragen werden. Mithilfe eines Zugangscodes äußern die Tübinger dann ihre Meinung. So kann jeder Einwohner über 16 Jahre nur einmal an der Befragung teilnehmen. Sicherheitsmängel ließen sich aus Sicht des Datenschutzbeauftragten Baden-Württembergs, Stefan Brink, nicht feststellen.
An der ersten Umfrage zum Bau eines Hallenbads oder eines Konzertsaals nahmen im März rund 12.000 Personen teil. Das sind knapp 16 Prozent der 77.000 Stimmberechtigten in Tübingen. Repräsentativ ist das Ergebnis somit nicht. Palmer ist dennoch zufrieden, vor allem über die hohe Wahlbeteiligung bei den 16- bis 20-Jährigen. „Die sonst so wahlmüde Jugend ist begeistert von dem Konzept“, sagt Tübingens OB.
Mit der App spart Tübingen bei Abstimmungen viel Geld
Überzeugend ist für Palmer auch die Finanzierung der digitalen Bürgerbefragung. Statt 100.000 Euro für eine herkömmliche schriftliche Umfrage müsse die Stadt nur 5000 Euro in die App-Abstimmung investieren.
Wenig verwunderlich ist, dass nur sechs Prozent der über 75-Jährigen an der digitalen Befragung teilgenommen haben. Dabei könnte gerade diese Altersgruppe von der nicht zeitlich und räumlich gebundenen Umfrage profitieren. Sie würden sich beschwerliche Wege ersparen. Doch einstweilen tun sich die Älteren mit der digitalen Abstimmung offenbar noch schwer.
Keine politische Bindewirkung
Letztlich bleibt die Frage, ob ein derart niedrigschwelliges Partizipationsmodell auch zu inhaltlicher Auseinandersetzung motiviert. Oder ob ein Like-Button ähnlich schnell und unreflektiert geklickt ist wie im Facebook-Feed. Immerhin, und das allein ist ein Demokratisierungseffekt, erleichtert die App die Rückkoppelung zwischen Regierenden und Regierten.
Wie auch die klassische Bürgerbefragung ist die App lediglich eine Art Marktforschungs-Tool ohne politische Bindewirkung. Womöglich gehen die verhandelten Themen auch an der Zielgruppe vorbei. Das jedenfalls befürchtet Demokratieforscher Wolfgang Merkel: „Fragen der Low Politics wie Hallenbad oder Konzerthalle sind für jüngere Menschen nicht so mobilisierungsträchtig, wie es die großen Fragen des Klima- und Verkehrswandels, Menschenrechte, Krieg und Frieden sind.“ In Tübingen haben sich die Befragten übrigens mit 80 Prozent für den Bau des Hallenbads ausgesprochen. Bei der Altersverteilung in der App-Befragung ist das keine Überraschung.

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