Den letzten Mai-Montag 2017 werden die 29 Schüler der Klasse 9d des Duisburger Steinbart-Gymnasiums wohl nie vergessen. Um 10.20 Uhr geht die Klassentür auf, Schulleiter Ralf Buchtal tritt mit einem unbekannten Herrn und einer unbekannten Dame ein und bittet die 14-jährige Bivsi Rana, ihre Sachen zu packen und mitzukommen.
Was die 29 Schüler und Klassenlehrer Sascha Thamm nicht wissen, als Bivsi das Klassenzimmer verlässt: Die 14-Jährige kommt nicht zurück. Noch am selben Abend wird sie von den Behörden in ein Flugzeug gesetzt und mit ihren Eltern nach Nepal abgeschoben. Bivsi, die am 11. Juni 2002 geboren wurde – in Duisburg.
Niemand war über die bevorstehende Abschiebung informiert, nicht einmal Klassenlehrer Sascha Thamm. „Ich war wie vor den Kopf geschlagen“, schildert Thamm FOCUS Online den dramatischen Moment, als er im Lehrerzimmer auf die weinende Bivsi und einen bedrückt auf den Boden schauenden Kollegenkreis trifft.
Tragische Erklärstunde im Park vor der Schule
Der Asylantrag, den Bivsis Eltern gestellt hatten, war erstmals vor 15 Jahren abgelehnt worden. Dann ging er durch alle Instanzen. Die letzte Klage wurde 2016 abgewiesen. Und dann kam der 29. Mai 2017, der Tag der Abschiebung.
Nur für einen winzigen Augenblick hatten einige Schüler die Gelegenheit, sich von Bivsi im Lehrerzimmer zu verabschieden. Nach der Pause stand dann Englisch auf dem Stundenplan. „Doch der Englischlehrer und ich haben sofort beschlossen, dass wir mit der Klasse in den Park gehen, um ihnen die Situation zu erklären", so Thamm, der seine Klasse in Geschichte und Politik unterrichtet.
Ein Mädchen ist sogar zusammengebrochen
Die Szenen, die sich dann ab 11 Uhr im Park vor dem Steinbart-Gymnasium abspielen, gehen Thamm an die Nieren. „Alle Mädchen haben geweint, sie waren nicht zu trösten. Ein Mädchen – ihre beste Freundin – ist sogar zusammengebrochen, wir mussten den Notarzt holen.“ Sogar die Jungs, die in solchen Situationen normalerweise eher verhalten reagierten, seien „völlig fertig gewesen“, erzählt der Klassenlehrer.
Die folgenden Tage standen völlig im Zeichen der Abschiebung, berichtet Thamm weiter. Am Dienstagmorgen seien zahlreiche Eltern von Bivsis Mitschülern um 7.20 Uhr zur Schule gekommen. „Sie waren entsetzt, wollten ihre Solidarität bekunden und haben angeboten, zu helfen, um Bivsi zurückzuholen.“
Beliebt, sympathisch und gut in der Schule
Er selbst habe sich seitdem immer wieder eine Frage gestellt: „Ich verstehe einfach nicht, wie die Abschiebung auf diese brutale und erniedrigende Art und Weise erfolgen konnte. Diejenigen, die sie organisiert haben, waren sich offenbar überhaupt nicht im Klaren darüber, wie viele Kinder sie traumatisiert haben. Das war auch eine harte Erfahrung für mich.“
Bivsi sei bei allen Mitschülern sehr beliebt gewesen, erzählt Thamm. „Zurückhaltend, hilfsbereit, sympathisch und engagiert – so würde ich sie beschreiben.“ Ihre schulischen Leistungen hätten sich in den drei Jahren, die er sie unterrichtet habe, „unglaublich verbessert“, auch in Naturwissenschaften und Sprachen sei sie gut. „Und: Sie ist eine der ganz wenigen Schülerinnen mit einem Schwimmabzeichen in Gold. Sie hilft sogar beim Schwimmunterricht.“
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Die verzweifelten Schüler wollen nun unbedingt etwas für Bivsi tun, schildert der Lehrer. „Sie sind zwar alle noch sehr wütend und unglaublich enttäuscht. Doch mittlerweile haben sie sich mit dem Schülerrat zusammengesetzt und sind dabei, auch mit anderen Aktionen zu organisieren. Auch eine Demonstration ist geplant“, erzählt Bivsis Klassenlehrer weiter.
Mitschülerin: "Wie kann das Land etwas tun, das mich am Staat zweifeln lässt?"
Am Mittwoch hätten sich Duisburgs Ordnungsdezernentin und der Leiter des Ordnungsamts der Klasse in einem Gespräch gestellt. „Das fand ich sehr mutig von ihnen, das muss ich sagen. Aber sie konnten die Schüler mit ihren Antworten über Ordnung und Rechtmäßigkeit nicht zufriedenstellen“, so Thamm. Eine Schülerin habe zu den beiden Stadtvertretern gesagt: „Wie kann es sein, dass das Land etwas tut, das mich am Staat zweifeln lässt?“
Die Rechtmäßigkeit der Abschiebung will Thamm nicht kommentieren. Mit einer Ausnahme: „Wie kann es sein, dass nach Abweisung der letzten Klage selbst die Härtefallkommission des nordrhein-westfälischen Landtags nichts mehr gegen die Abschiebung von Bivsi unternommen hat? Das ist doch nicht zu fassen.“ Inzwischen habe die Klasse einen Brief an die Kommission geschrieben, um sich diese dramatische Entscheidung erklären zu lassen.
Kontakt zu Bivsi über WhatsApp
Die Klasse 9b des Steinbart-Gymnasiums sei jedenfalls kampfbereit, so Thamm, „die Schüler wollen Bivsi und ihre Eltern zurückholen, die Familie ist perfekt integriert.“ Inzwischen haben die Schüler über WhatsApp sogar wieder Kontakt mit Bivsi, die zum ersten Mal in ihrem Leben in Nepal ist.
Eine Nachricht von Bivsi beschreibt nach Ansicht ihres Klassenlehrers Sascha Thamm perfekt, was für ein Mensch in dem jungen, fröhlichen Mädchen stecke: „Sie hat geschrieben: ‚Vielen Dank dafür, wie ihr euch um mich kümmert. Aber denkt jetzt erst mal an euch. Und bereitet euch vor für die Französisch- und Lateinklausur am kommenden Mittwoch.‘“
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