Die bevorstehende Schließung einer medizinischen Anlaufstelle für neu angekommene Flüchtlinge bei der Bundespolizei in Rosenheim sorgt für Aufregung. Am Montag hatte das bayerische Gesundheitsministerium mitgeteilt, dass das sogenannte Kurzscreening „bis auf Weiteres“ eingestellt werde soll.
Christian Jäger ist verwaltender Leiter der Ambulanz Rosenheim, welche für die medizinische Anlaufstelle verantwortlich war. Gegenüber FOCUS Online schildert er Probleme, die seines Erachtens ohne eine solche Screening-Stelle für Flüchtlinge in Rosenheim und Umgebung entstehen werden.
Medizinische Anlaufstelle
Aufgabe der Screening-Stelle ist es, Geflüchtete, die von Beamten bei ihrer Einreise aufgegriffen werden, zu untersuchen, bevor diese auf Erstaufnahmeeinrichtungen verteilt werden. So sollen ansteckende Krankheiten erkannt und behandelt werden, bevor sie sich ausbreiten können.
Eigentlich war die Schließung für Freitag, den 30. Juni, angekündigt - nach heftigem Protest wurde der Beschluss zunächst nicht umgesetzt. Wie es mit der Stelle weitergeht, ist noch offen.
FOCUS Online: Herr Jäger, die Behörden begründeten die Schließung mit dem deutlichen Rückgang von Asylbewerbern. Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise im Herbst 2015 kamen täglich bis zu 3000 Asylbewerber in Rosenheim an, derzeit sind es nach Auskunft der Bundespolizei maximal 50 pro Tag. Hat sich die Zahl der ankommenden Flüchtlinge tatsächlich so stark verringert?
Christian Jäger: Es steht fest, dass deutlich weniger Flüchtlinge hier ankommen. Wahrscheinlich liegt die Bundespolizei mit ihrer Einschätzung richtig. Dazu muss man allerdings erwähnen, dass hier vor zwei Jahren absoluter Ausnahmezustand bestand. In den Hochphasen arbeiteten rund um die Uhr jeweils zehn Helfer mit zwei Ärzten an zwei verschiedenen Standorten, allein in Rosenheim. Das ist heute natürlich nicht mehr so.
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FOCUS Online: Halten Sie die Schließung also für eine gerechtfertigte Maßnahme?
Jäger: Nein. Ich finde sogar, dass es sehr gefährlich ist, die Screening-Stelle zu schließen.
FOCUS Online: Warum?
Jäger: Auch und besonders in Hinsicht auf die Gesundheit der Bundespolizisten und Mitbürger. Schließlich benutzen Flüchtlinge die öffentlichen Verkehrsmittel und stehen in Kontakt mit der Bundespolizei, da übertragen sich ansteckende Krankheiten recht schnell. Unsere Zahlen belegen, dass stets ein Drittel der ankommenden Flüchtlinge medizinisch auffällig ist. Medizinisch auffällig heißt zwar nicht zwingend ansteckend oder schwer krank, dennoch muss es eine Anlaufstelle für die Menschen geben, welche Hilfe benötigen. Hinzu kommt: Bei Ausfall der Screening-Stelle müssen die kranken Flüchtlinge auf Notaufnahme, kassenärztlichen Dienst oder Rettungsdienst ausweichen. Das verstopft die Kanäle.
FOCUS Online: Welche Krankheitsbilder fallen unter "medizinisch auffällig" und welche Krankheiten sind Ihnen in den letzten Jahren am häufigsten untergekommen?
Jäger: Unter „medizinisch auffällig“ fällt zwar alles ab Kopfschmerzen, dennoch heißt das nicht, dass Flüchtlinge mit geringen Beschwerden zwangsläufig die Screening-Stelle aufsuchen. Ein Besuch der medizinischen Anlaufstelle bleibt den Flüchtlingen selbst überlassen, es ist lediglich eine Anweisung. Häufige Krankheiten sind beispielsweise Krätzmilben oder Karies. Im Winter gibt es üblicherweise viele Fälle von Masern, Pocken oder Scharlach. Das kann für Erwachsene, welche sich als Kind nicht infiziert haben, besonders gefährlich werden. Es erreichten uns auch einige Tuberkulose Fälle, zur Tagesordnung gehörten diese allerdings nicht.
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FOCUS Online: Dass es weniger Helfer braucht, wenn weniger Geflüchtete in Rosenheim ankommen, scheint einleuchtend. Wäre es ein Kompromiss, die Screeing-Stelle zu erhalten aber die Zahl der Helfer zu reduzieren?
Jäger: Das ist definitiv eine Möglichkeit, die ich für erstrebenswert halte. Während des Tages soll ein Arzt, während der Nachtstunden ein Sanitäter vor Ort sein. So können wir die Kosten deutlich reduzieren und medizinisch ein gutes Gewissen haben. Darauf habe ich allerdings keinen Einfluss. Ob darüber tatsächlich diskutiert wird, weiß ich nicht.
FOCUS Online: Wie wird es ohne medizinische Anlaufstelle im Raum Rosenheim weitergehen? Was wird beispielsweise aus ihren Angestellten?
Jäger:Personal wie Notärzte bleiben weiterhin eingestellt. Für die Ärzte finden wir ohne Probleme anderweitige Beschäftigung. Wir haben ja auch noch andere Aufgaben wie zum Beispiel Sanitätsdienst bei Veranstaltungen, Mitwirkung im Katastrophenschutz und Errichtung von Ersthelfergruppen. Doch Krankenschwestern und andere Helfer muss ich weinenden Auges gehen lassen. Für sie gibt es dann leider keinen Bedarf mehr. Das tut mir sehr leid.
Eine Sache, die uns Mut macht
Zum ersten Mal wurde in diesem Jahr an eine deutsche Kommune der "Nationale Integrationspreis" vergeben. Die Auszeichnung ging an die 17.000-Einwohner-Stadt Altena im Sauerland.
Die Jury, der neben Frankfurts Ex-Oberbürgermeisterin Petra Roth auch der Schauspieler Elyas M'Barek ("Fack ju Göthe") angehörte, bezeichnete Altena als vorbildlich im Umgang mit Flüchtlingen.
Eine Besonderheit war zum Beispiel, dass die Stadt die Flüchtlinge nicht in Sammelunterkünften, sondern in normalen Wohnungen unterbrachte. Zudem wurden auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise sogar rund 100 Menschen mehr aufgenommen, als der Stadt zugewiesen worden waren.
Die Stadt selbst stellte die positiven Effekte des Flüchtlingszuzugs heraus. So verzeichnet Altena erstmals seit mehr als 20 Jahren eine positive Bevölkerungsentwicklung.
FOCUS Online: Das Ministerium erläuterte, der Zugang zur medizinischen Versorgung von Flüchtlingen sei trotz der Schließung des Screenings jederzeit gesichert. Wie wird es Ihrer Ansicht nach den erkrankten Geflohenen ergehen?
Jäger: Was die Flüchtlinge angeht, wird es meines Wissens nach keine medizinische Erstversorgung mehr geben. Diese werden dann direkt, ohne medizinisches Gutachten per Zug an die Erstaufnahmeeinrichtungen geschickt. Es gibt niemanden, der sich sonst für die kranken Geflohenen verantwortlich sieht.
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