Wer denkt, in der Politik geht es um "die Sache", wird am Ende das Buch ungläubig, vielleicht sogar ernüchtert beiseite legen. Denn "die Sache" – hier die Flüchtlings- und Migrationspolitik, Integration und Grenzsicherung – ist in der von Robin Alexander recherchierten Geschichte nur von nachrangiger Bedeutung.
Und gleichzeitig beschreibt er sie als eine der wichtigsten Wegmarken der deutschen Geschichte nach der Vereinigung. Ist das ein Widerspruch?
Nein, wie dieses wunderbar geschriebene Buch überzeugend ausführt. Es geht nicht um die Sache, sondern darum, gegenüber Anderen Recht zu behalten, um die Macht zu bewahren. Dazu muss die Politik in eine stimmige Erzählung gepackt werden, in der die Handelnden selbst das Zepter fest in der Hand haben. Schwierig wird es, eine angemessene Politik zu erzählen, wenn die Realität widerborstig ist.
Der Umschwung in der Flüchtlingspolitik
Die Geschichte lässt sich so zusammenfassen: Nach der einsamen Entscheidung der Bundeskanzlerin, für die in Budapest gestrandeten Flüchtlinge die deutschen Grenzen zu öffnen, fand sich niemand im Kreis der Entscheider, der den Mut hatte, die Grenzschließung kurz später durchzusetzen, obwohl die Spitzen der Koalitionsregierung dies übereinstimmend anstrebten.
Diese Verantwortung wollte niemand übernehmen. Die wenigen Beteiligten erscheinen den meisten Leserinnen und Lesern deshalb schon gleich zu Anfang in einem ganz neuen Licht.
Nach dieser verpassten Änderung musste Bundeskanzlerin Merkel ihr Image als Flüchtlingskanzlerin aufrecht erhalten, weshalb die möglichen Grenzschließungen, die von den südeuropäischen Staaten entlang der Balkanroute angestrebt wurden, im europäischen Kontext so nicht umgesetzt werden durften (obwohl es dann doch genau so geschah).
Die Schließung der Balkanroute sollte in der öffentlichen Wahrnehmung im Schatten des EU-Türkei-Vertrages stehen. Nach Alexanders Darstellung ging es eben darum, Recht zu behalten, um die zentrale politische Entscheidungsstellung in Deutschland zu bewahren.
Balkanroute und Türkei
Dass dieser EU-Türkei-Vertrag nie umgesetzt werde, sei allen Beteiligten klar gewesen, aber – hier kommt Alexanders zentrales Argument – er half, die Geschichte von der politischen Führungskraft und Handlungsfähigkeit weiterzuerzählen. Diese Entwicklung wird überzeugend und sehr gut nachvollziehbar dargestellt. In klug komponierten Kapiteln leben die turbulenten Monate nochmals auf und werden doch in handhabbaren und stimmigen Abschnitten erzählen.
Das Buch ist großes Handwerk – sowohl hinsichtlich der Recherche als auch in seinem unaufgeregten und gerade deshalb so treffenden Stil.
Große Wegmarke in Deutschlands Entwicklung
In einer Gegenüberstellung aber ist die Darstellung nicht ganz einleuchtend. Robin Alexander vergleicht (es lässt sich auch als gleichsetzen lesen) Merkels Flüchtlingspolitik mit der Westpolitik Konrad Adenauers, der Ostpolitik Willy Brandts, der Vereinigungspolitik Helmut Kohls (S. 51). Sein Argument ist dabei gar nicht schlecht: alle vier Entwicklungen seien einschneidende, die politische Kultur und die Lebenswirklichkeit Deutschlands prägende Zäsuren gewesen. Das ist völlig richtig! Doch gibt es einen durchschlagenden Unterschied.
Über den Experten
Prof. Dr. Thomas Jäger ist seit 1999 Inhaber des Lehrstuhls für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität zu Köln. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in internationalen Beziehungen sowie amerikanischer und deutscher Außenpolitik.
Merkels einsame Entscheidung
Auch wenn alle vier epochalen Entwicklungen untrennbar mit den politischen Urteilen der jeweiligen Bundeskanzler verbunden sind, waren in den ersten drei Prozessen doch die Parteien, das Parlament und die Öffentlichkeit in einem intensiven politischen Wettstreit eingebunden. Doch Bundeskanzlerin Merkels Flüchtlingspolitik beschreibt Alexander als die Handlung einer einzelnen Person, die in den entscheidenden Momenten noch nicht einmal die Spitzen der Koalitionsparteien unterrichtet, geschweige denn ernsthaft mit ihnen spricht.
Der Bundestag kommt in diesem Bericht nur einmal vor, als es um die Armenien-Resolution geht, und spielt in der Flüchtlingspolitik weiter einfach keine Rolle. Und die Landkreise und Kommunen, da wo die Arbeit angefallen ist, sind bis auf einen erfolglos renitenten bayerischen Landrat einfach nur effizient, wobei Ausnahmen die Regel bestätigen. Für einen solch folgenschweren Vorgang macht die Lektüre mit Blick auf demokratische Entscheidungsprozesse sehr nachdenklich.
Alles Improvisation
Das Buch ist so reizvoll und eloquent geschrieben, dass man es in einem Rutsch durchlesen muss. Dass Alexander dabei nicht den Stil der amerikanischen Enthüllungsjournalisten kopiert, hebt ihn über diese hinaus: Er hat eine klarere, nachdenkenswertere und wirksamere Ausdrucksform für derartige Berichte gefunden. Das zeigt sich inhaltlich, indem er Leerstellen und Bruchstücke lässt, wo sie wahrscheinlich auch genau hingehören. Es muss am Ende nicht alles passen. Wie im richtigen Leben eben.
Dass die Bundeskanzlerin in die Flüchtlingspolitik gestolpert sei (S.78) und sodann von innenpolitischen Kräften getrieben wurde, um im Einklang mit der deutschen Öffentlichkeit zu bleiben und deren Erwartungen zu erfüllen, gleichzeitig aber auch, um in der eigenen Partei das Heft (mal dieses, mal jenes) fest in der Hand zu behalten, wird eindrucksvoll nachgezeichnet. Sensibel beschreibt der Verfasser, wie die um Merkel gruppierten Politiker mal versuchen, taktische Gewinne einzustreichen, einfach nur ausgestochen oder hier und da mal herangezogen werden. Es wird die einsame Vorstellung von Bundeskanzlerin Merkel beschrieben, die – das ist eine wichtige These Alexanders – dabei weniger strategischen Weitblick als taktische Finesse an den Tag legt.
Auch die Politikbeobachter kriegen deshalb ihr Fett weg, wenn sie in die Merkelsche Politik Zwecke und Ziele hineinlesen, die da nicht gewesen seien. "In Wahrheit war nichts Strategie und alles Improvisation." (S. 110)
Was lernen wir daraus?
Der Titel des Buches wurde dabei, betrachtet man den gesamten Bericht, verkürzt. "Die Getriebenen" müsste eigentlich heißen "Die Getriebenen außer Wolfgang Schäuble". Das löse ich hier aber nicht auf, denn dieses Buch sollten alle lesen, die an deutscher Politik interessiert sind. Denn richtig ist auch Alexanders letzter Satz: "Die Flüchtlingskrise ist noch nicht zu Ende." (S. 279) Deshalb wäre die Frage für zukünftige Entwicklungen, ob und was die "Getriebenen" aus ihrer Geschichte gelernt haben. Und welche Lehren die Gesellschaft daraus zieht.
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