Ist die Entscheidung der SPD, nach Abschluss der Koalitionsverhandlungen auch noch die Parteibasis abstimmen zu lassen, überhaupt rechtmäßig? Der Verfassungsrechtler und FOCUS-Online-Experte Gernot Fritz hat dazu eine sehr eindeutige Meinung: Nein.
Die SPD lässt ihre Mitglieder darüber abstimmen, ob eine große Koalition zustande kommt oder nicht. Was demokratisch scheint, ist rechtlich fragwürdig.
Erstens marginalisiert es die Befugnisse des Parlaments; denn die Kanzlerwahl ist alleiniges Recht der gewählten Abgeordneten und nicht das der sie entsendenden Parteien.
Zweitens gibt das Votum auch wegen ihres Alters oder ihrer Staatsangehörigkeit gar nicht wahlberechtigte Personen einen Einfluss auf die Regierungsbildung, der im Grundgesetz nicht vorgesehen ist.
Drittens macht die SPD ihre Abgeordneten zum Spielball ungewisser Einflussnahmen, die alle Koalitionsbemühungen noch auf der Zielgeraden ausbremsen können. Es sind selbstgeschaffene Stolpersteine einer Partei, deren Führung die Kraft zur Entscheidung fehlt.
Über den Experten
Dr. Gernot Fritz ist Anwalt für Verwaltungsrecht. Er löste im Wulff-Verfahren Ermittlungen gegen den Celler Generalstaatsanwalt Frank Lüttig wegen dessen Informationspolitik aus. Unter Bundespräsident Roman Herzog war er stellvertretender Leiter des Bundespräsidialamtes.
Parteien wirken nach Art. 21 Abs. 1 GG bei der politischen Willensbildung des Volkes mit, indem sie beispielsweise Landeslisten und durch wahlberechtigte Mitglieder auch Wahlkreiskandidaten aufstellen. Durch die Bundestagswahl berechtigt werden aber ausschließlich Abgeordnete, die gemäß Art. 38 Abs. 1 GG an Aufträge und Weisungen nicht gebunden sind.
Parteien steht verfassungsrechtlich kein Durchgriff auf Abgeordnete zu
Zugegeben: die Staatspraxis entspricht diesem Verfassungsmodell nur bedingt; denn Koalitionsverträge werden regelmäßig von Parteien und ihren Fraktionen gemeinsam geschlossen. Das hat Tradition, ist aber keineswegs selbsterklärend, weil den Parteien verfassungsrechtlich kein Durchgriff auf ihre Abgeordneten zusteht. Die Mitwirkung der Parteien am Koalitionsvertrag ist hinnehmbar, soweit sie sich vertraglich verpflichten, ihre Parlamentarier bei der Umsetzung des politisch Vereinbarten zu unterstützen. Umgekehrt kann dieser Vertrag die Abgeordneten aber nicht zum Wohlverhalten gegenüber Parteientscheidungen zwingen.
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Die Parteiendominanz bei Koalitionsverhandlungen verwischt zugleich die Ebenen politischer Zuständigkeit. Bei den bisherigen Verhandlungen hatten Landespolitiker ein besonderes Gewicht. Innerparteilich mag es sinnvoll sein, alle Ebenen einzubinden. Andererseits ist es problematisch, wenn Ministerpräsidenten und Landesminister – auch wenn sie unter ihrer Partei-Flagge segeln – Arbeitsprogramm und Struktur der künftigen Bundesregierung festlegen, obwohl sie qua Staatsamt auf die Bundespolitik allenfalls über den Bundesrat Einfluss nehmen können und hierbei meist noch in politisch andersfarbige Koalitionen eingebunden und dann bei Abstimmungen sogar neutralisiert sind.
Parteien sind nicht zur Mitentscheidung berufen
Die Dominanz der Parteien greift in Kompetenzen ein, die das Grundgesetz für die Bundestagsabgeordneten reserviert. Die Verfassung legt die Entscheidung über eine Regierung in die Hand der Parlamentarier, die allein über die nötige demokratische Legitimation und über die Zuständigkeit verfügen, einen Bundeskanzler zu wählen. Parteien, deren Gremien oder Mitglieder können mitreden, sind aber nicht zur Mitentscheidung berufen.
Das Grundgesetz erlaubt kein imperatives Mandat
Das Grundgesetz erlaubt kein imperatives Mandat! Abgeordnete mögen sich der Zustimmung ihrer Partei vergewissern, bevor sie eine Koalitionsentscheidung treffen. Und eine Partei darf ihren Abgeordneten auch Empfehlungen für ihr Handeln geben. Aber die bindende Erwartung an Mandatsträger, sich einem Votum der Mitglieder zu unterwerfen, von denen sie ihre Legitimation als Parlamentarier nicht ableiten, schafft eine vom Grundgesetz nicht gewollte Druckkulisse und beschädigt so die Statik der repräsentativen Demokratie.
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