An den Demonstrationen rechter und rechtsextremer Gruppen in Chemnitz haben nicht nur einschlägige Neonazis teilgenommen. Auf Fotos und Videos sind auch ganz normale Bürger zu sehen, die mitlaufen und sich offenbar nicht daran stören, wenn andere Teilnehmer Nazi-Parolen rufen oder den Hitlergruß zeigen.
FOCUS Online hat mit dem Politikwissenschaftler Hans Vorländer darüber gesprochen, warum sich Normalbürger derart von Rechtsextremisten instrumentalisieren lassen. Vorländer leitet das Zentrum für Verfassungs- und Demokratieforschung an der Technischen Universität Dresden.
„Den einzelnen Bürgern wird nicht immer deutlich sein, dass sie in ein gewaltbereites Umfeld begeben, wenn sie dort mitlaufen“, gibt Vorländer zu bedenken. Einigen Mitläufern sei dies klar und sie nähmen es hin, aber das gelte nicht für alle. „In Chemnitz hat man gesehen, wie es rechten Gruppierungen und auch Rechtsextremisten gelingt, eine bestehende Stimmungslage für sich auszunutzen und Ressentiments gegen Ausländer und Flüchtlinge zu instrumentalisieren“, erklärt er. Die Rechtsextremisten vermittelten diesen Menschen das Gefühl, „dass sie deren Meinung auf die Straße tragen und damit etwas für sie tun“. In diesem Zusammenhang seien auch die Rufe „Wir sind das Volk“ bei den Aufmärschen zu verstehen.
Der Demokratieforscher spricht von einer „rhetorischen Mobilisierungsstrategie von Rechtsextremisten und Rechtspopulisten“: Sie führten jedes erdenkliche Problem auf Ausländer zurück, „vor allem auf männliche Ausländer oder Flüchtlinge, die aus anderen Kulturen stammen“. Für Demagogen sei es besonders einfach, Fremde zum Sündenbock zu erklären, „weil diese Gruppe von außen kommt und zunächst nicht dazugehört – das löst bei vielen per se schon Skepsis und Ablehnung aus“.
Im Video: Migranten sollen in Wohnungen bleiben? Falschmeldungen über Chemnitz verbreiten sich
„Wir reden aneinander vorbei“, fürchtet der Demokratieforscher
Die Falschmeldungen über die Bluttat von Chemnitz gossen aus Sicht des Forschers zusätzlich Öl ins Feuer. Unter anderem hatte sich die Behauptung verbreitet, der getötete 35-Jährige sei zuvor einer belästigten Frau zur Hilfe geeilt. Das sei „genau der Topos der Kölner Silvesternacht, fremde Männer belästigten deutsche Frauen“, sagt Vorländer. „Daraus entsteht eine gefährliche Melange, die von Menschen geglaubt wird, die ohnehin ein negatives, fremdenfeindliches und rassistisches Bild von Ausländern haben – selbst, wenn die Polizei oder andere offizielle Stellen sagen, dass es keine Belästigung gab.“
Der Experte sieht ein Grundproblem darin, dass man mit Fakten nur noch schwer durchdringe. „In den Echokammern der sozialen Medien verbreiten sich Gerüchte wie ein Lauffeuer“, sagt Vorländer. „Bestehende Meinungen werden in geschlossenen Kommunikationsräumen wie zum Beispiel Facebook-Gruppen wechselseitig bestätigt, negative Gefühle wie Wut und Hass werden gesteigert.“ Das führe zunehmend zu einer gespaltenen Öffentlichkeit. „Wir reden aneinander vorbei.“
Aber wie soll man Menschen erreichen, die selbst der Polizei nicht glauben und Medien schon gar nicht? Man müsse sich immer wieder die Mühe machen, Gerüchte und Falschmeldungen richtigzustellen, ist Vorländer überzeugt. „Die Politik muss Haltung zeigen, und Polizei und Gerichte den Rechtsstaat durchsetzen.“
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Experte: Man muss den Leuten erklären, dass Demokratie auch bedeutet, sich an Spielregeln zu halten
Als Demokratie-Forscher bereitet ihm die Tendenz Sorge, dass seit Jahren das Vertrauen in Institutionen wie Parlamente und Parteien abnimmt. Vorländer spricht von „Prozessen politischer Entfremdung“. Viele seien mit der praktizierten Demokratie in Deutschland unzufrieden, sprächen sich aber gleichzeitig für Demokratie als abstraktes Modell aus. In Ostdeutschland sei diese Tendenz stärker zu beobachten als im restlichen Deutschland. Vorländer fürchtet, dass diese Skepsis gegenüber dem politischen System in Deutschland gefährlich ist. Denn dies könne zu „zu aufgestauten Enttäuschungen und letztlich Ablehnung“ der liberalen repräsentativen Demokratie führen.
Vorländer plädiert für mehr politische Bildung und Aufklärung darüber, wie Politik und Demokratie funktioniert. „Man muss den Menschen vermitteln, dass zu demokratischer Beteiligung auch gehört, sich an demokratische Regeln zu halten“, fordert er. „Darunter fällt auch der Schutz von Minderheiten, aber eben auch Vertrauen in demokratische Institutionen und Beteiligung an der Demokratie.“ Damit die Demokratie wirklich funktioniere, müssten die Bürger sich konstruktiv beteiligen.
Immer wieder kommt die Debatte hoch, ob es eigentlich etwas bringt, mit „besorgten Bürgern“ zu reden, die sich abgehängt fühlen, obwohl es ihnen in Deutschland nicht schlecht geht und die Schuld bei Ausländern suchen.
Der Politikwissenschaftler hat eine klare Meinung dazu: „Wir haben keine Alternative zum Dialog“, sagt Vorländer zu FOCUS Online. „Wir haben keine Alternative zur dauernden Vermittlung dessen, wie Politik funktioniert, was Demokratie ist und welche demokratischen Spielregeln alle einhalten müssen, damit sie funktioniert.“ Dazu gehöre auch, dass die Demokratie eine wehrhafte sein müsse. „Sie muss sich wehren gegen diejenigen, die die Demokratie verachten oder sie mit gewaltsamen Mitteln verändern wollen.“
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