DOMRADIO.DE: Die Hetzjagden durch Chemnitz – egal wer da wen provoziert haben könnte – sind unfassbar. Wie haben Sie diese Ausschreitungen wahrgenommen?
Prälat Karl Jüsten (Leiter des Katholischen Büros in Berlin): Zuerst habe ich von den Ausschreitungen über meinen Communicator erfahren. Da habe ich mir natürlich über das Netz die ersten Bilder angesehen. Es ist schon sehr bedrückend zu sehen, dass offenkundig viele Menschen den demokratischen Konsens aufkündigen und den Rechtsstaat nicht seine Arbeit machen lassen. Die Polizei hat die Straftat sehr zügig bearbeitet, aber das scheint einer bestimmten Bevölkerungsgruppe nicht genügt zu haben. Es kann nicht angehen, dass sich eine Bevölkerungsgruppe über den Rechtsstaat stellt, selber das Recht setzt und dann auch noch erklärt, wie der Staat das zu verfolgen hat.
Die anschließenden Ausschreitungen sind insofern sehr bedrückend, weil sich viele Menschen dem angeschlossen haben. Ich unterstelle nicht allen, Nazis zu sein oder sich nicht mehr auf dem Boden des Grundgesetzes zu bewegen, sondern sich aus welchen Unzufriedenheiten auch immer zu artikulieren. Gleichwohl weiß ich natürlich, dass wir auch auf der linken Seite Probleme haben. In Berlin erleben wir das insofern, als dass wir uns als Kirche fragen müssen: "Wie können wir die Menschen erreichen, die sich vom demokratischen Konsens verabschiedet haben?"
DOMRADIO.DE: Michael Kretschmer hat gestern Chemnitz besucht – als eine Reaktion auf die Unruhe. Die Politik ächtet verbal die Hetzjagden oder andere Gewalt auf den Straßen Sachsens. Reicht das?
Jüsten: Das Ächten ist das eine. Das andere ist, dass wir die Menschen in der Tat wieder erreichen müssen. Ein wichtiger Anknüpfungspunkt ist dafür die politische Bildung. Wir als Kirchen bemühen uns darum.
Ein wichtiger anderer Anknüpfungspunkt ist auch, in dieses rechte Milieu rein zu kommen, um mit den Menschen zu reden und sie davon überzeugen, dass sie vielleicht auf dem Irrweg sind. Wir müssen sie davon überzeugen, dass der andere Weg – nämlich der der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und unseres Grundgesetzes – der bessere Weg ist. Dazu müssen die Menschen aber auch von den Erfolgen des Systems überzeugt sein und davon profitieren. Wir müssen auch genau hinschauen, inwiefern sich die Menschen ungerecht behandelt und abgehängt fühlen.
Auch wenn es objektiv vielleicht keine Ungerechtigkeiten gibt, haben die Menschen oft das Gefühl, dass sie nicht angemessen behandelt werden. Das ist wiederum eine eigene Wahrheit, die ich zunächst einmal annehmen und ernstnehmen muss. Ich muss auf die Menschen zugehen. Das gilt auch für uns als Kirche.
DOMRADIO.DE: Die Katholische Kirche hat in Ostdeutschland traditionell eine sehr kleine Stimme. Aber gibt es da Möglichkeiten, trotzdem etwas zu bewegen?
Jüsten: Interessant ist, dass da, wo die Kirche wirklich präsent ist, die Werte der Demokratie vorbehaltloser akzeptiert werden als anderswo.
DOMRADIO.DE: Gibt es da einen Zusammenhang?
Jüsten: Ja, der ist sogar empirisch nachgewiesen. Das heißt, wir Kirchen – evangelisch wie katholisch – sollten ein Interesse haben, möglichst viel an vielen Orten präsent zu sein. Insbesondere im Osten haben wir da traditionell unsere Schwierigkeiten; zunehmend aber auch im Westen.
Sehr wichtig sind dann auch Bildung und Schule. Es ist wichtig, dass wir die jungen Menschen über die Schulen erreichen. Außerdem ist es wichtig, dass wir zivilgesellschaftliche Organisationen unterstützen, die helfen, diese Grundwerte der Demokratie zu verbreiten.
Das Interview führte Tobias Fricke.
*Der Beitrag "Prälat Jüsten zu Chemnitz, Kirche und gesellschaftlichem Zusammenhalt" stammt von DOMRADIO.DE. Es gibt keine redaktionelle Prüfung durch FOCUS Online. Kontakt zum Verantwortlichen hier.
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