Eine Sitzgruppe von dicken Lehnsesseln steht in einer U-Form um einen weißen Holztisch. Es riecht intensiv nach dem Rauch einer Shisha, einer arabischen Wasserpfeife. Der mit Stein gepflasterte Hinterhof eines Reihenhauses im mittelsächsischen Freiberg geht nahtlos in eine grün gebliebene Wiese über. Überall stehen Schaukeln und Spielgeräte.
Nidal Al Nassralla sitzt in einem der Lehnsessel und bläst den Rauch der Shisha in die Luft. Das Reihenhaus wirkt wie ein Wohnhaus, doch es ist mehr als das. Hier ist die Initiative „Neue Heimat e.V.“ beheimatet, ein Verein für Zugezogene, für den kulturellen und religiösen Austausch. Und wenn es nach Al Nassralla geht, bleibt das auch so. „Die Politik kann direkt draußen bleiben“, sagt der 50-Jährige im Gespräch mit FOCUS Online. Mit ihr sei er fertig. „Wir wollen einfach nur friedlich leben und nichts damit zu tun haben.“
Dass Leute in Chemnitz auf die Straße gehen, um für ihre Rechte zu demonstrieren, verstehe er. Immerhin sei es das gute Recht dieser Menschen. Mehr möchte er dazu aber auch nicht sagen, schon über Politik zu sprechen, gefalle ihm nicht. Am vergangenen Wochenende waren als Reaktion auf den Mord an einem 35-jährigen Deutsch-Kubaner mehr als 1000 Menschen auf die Straße gegangen und hatten demonstriert.
Stimmen aus Sachsen
Ein Mann wird in Chemnitz auf offener Straße erstochen, danach kommt es zu Demonstrationen und Ausschreitungen. Sachsen steht derzeit international im Fokus. FOCUS Online wollte wissen: Wie sieht es dort wirklich aus und was denken die Menschen vor Ort über die Ereignisse? Unsere Reporter sind auf Spurensuche in Sachsen gegangen. Sie zeigen, welche Themen die Sachsen in ihrem Alltag beschäftigen. Haben Sie Angst, verspüren sie Hass? Schämen sie sich für ihr Bundesland? Und: Welche Forderungen stellen sie an die Politik?
Viele davon waren der rechten Szene zuzuordnen, es kam zu Ausschreitungen und versuchter Gewalt gegen Migranten. Die Demonstrationen führten zu Gegendemonstrationen, die Lage hat sich auch eine Woche später nicht beruhigt. Was Al Nassralla nicht versteht ist, wieso die Situation so eskalierte. Für ihn sei es nicht erklärbar, warum so viele Menschen derartig gewaltbereit demonstrierten.
„Viele von uns wollten gar nicht weg aus Syrien“
Dass er mit Politik nichts mehr am Hut haben möchte, hat auch mit seiner Vergangenheit zu tun. Al Nassralla ist in Syrien geboren, hat in Russland studiert, weswegen er immer noch fließend russisch spricht, und hat anschließend 23 Jahre als Zahnarzt in Syrien praktiziert. Er hatte eine eigene Praxis, ein eigenes Haus. Doch die Politik in seinem Land sei schuld daran, dass er das alles aufgeben musste. „Viele von uns wollten gar nicht weg aus Syrien, aber wir mussten“, sagt er heute. Und er zweifle auch nicht daran, dass einige sofort in die Heimat zurückkehren würden, wenn sich die politische Lage beruhigen würde.
Doch bis dahin versuche er, in Deutschland ein möglichst friedliches Leben zu führen – fernab von jeglicher Politik. Er würde viel lieber den Menschen in Deutschland die arabische Kultur und Religion näherbringen. Rund 100 Mitglieder habe die Initiative „Neue Heimat“ derzeit, zehn davon seien Deutsche. Auch eine Mexikanerin und eine Russin sind Mitglieder. Dass sich Religion, Kultur und Politik allerdings nicht immer trennen lassen, weiß auch Al Nassralla. Damit die Initiative finanzielle Unterstützung von der Stadt bekommen kann, braucht es einen Antrag bei der Stadt. Den sei man im Begriff zu stellen, erzählt Al Nassralla. Doch er erhoffe sich nicht besonders viel davon.
„Menschen sollten auf die Straße gehen dürfen, um ihren Ängsten Ausdruck zu verleihen
Religion und Politik auseinanderhalten – das funktioniert für nicht. Wie Nidal Al Nassralla hat er einen klaren Standpunkt zu diesem Thema. „Die Kirche soll sich so weit wie möglich aus tagespolitischem Geschehen raushalten“, sagt der Pfarrer des Freiberger Doms. Doch wenn sich Ereignisse auf grundlegende Werte und Ansichten auswirken, müsse auch die Kirche Haltung beziehen. Chemnitz habe ihn schon überrascht. Vor allem die Intensität der Demonstrationen.
Aber dass Menschen auf die Straße gehen, um ihren Ängsten Ausdruck zu verleihen, könne er nicht komplett schlecht heißen. „Es hat ja keinen Sinn, Dinge zu unterschlagen. Wir haben Probleme in Sachsen und denen muss man sich stellen“, sagt Ebenauer. Er habe insofern Verständnis für die Menschen, die in Chemnitz demonstrierten, als dass es jedem Menschen erlaubt sein sollte, seine Ängste kundzutun. Er fügt an, dass er kein Verfechter sei von „kommt alle zu uns“. Es sei laut Pfarrer Ebenauer eine ganz natürliche Reaktion, sich vor Fremdem erstmal zu fürchten, das könne man nur durch menschliches Miteinander und Kontakt zu dem Fremden ändern.
Rechtsextreme blockierten Busse voller Flüchtlinge
Angst davor, dass Freiberg ob seines hohen AfD-Wahlpotenzials ähnliche Vorfälle wie in Chemnitz bevorstehen, hat er nicht. Bei der Bundestagswahl hatte die rechtspopulistische Partei zwar mehr als 30 Prozent der Stimmen geholt und war damit stärkste Partei, fast sieben Prozentpunkte vor der CDU. Trotzdem sei Freiberg eine weltoffene Stadt, sagt Ebenauer. Es habe seit längerem keine gravierenden Vorfälle von Ausländerhass gegeben. Das letzte Mal im Jahr 2016, als Rechtsextreme Busse voller Flüchtlinge in Freiberg blockierten und ihre Abschiebung forderten. Von diesen Menschen „distanziere sich die Kirche aufs Schärfste“, sagt Ebenauer.
Danach sei nur einmal ein Mann nach einer seiner Predigten, die er mit einer alten jüdischen Geschichte geschlossen hatte, in der es darum geht jeden Menschen als seinen „Bruder“ zu akzeptieren, zu ihm gekommen. „Er pöbelte mich an und sagte, ich würde schon sehen, was passiert, wenn mir mal ein Flüchtling direkt gegenüberstehen würde“, erzählt Ebenauer.
Er habe keine Bedenken, dass in Freiberg Rechte aufmarschieren könnten. Denn Demonstrationen und Krawallen gebe es da „wo sich die Mehrheit gegen etwas zusammenschließt und so eine Masse an Menschen mobilisieren kann“, so Ebenauer. Zu sehen sei das in Chemnitz gewesen.
„Die Chemnitzer Gesellschaft ist nicht rechts“
Dass die Chemnitzer Gesellschaft mehrheitlich rechter Gesinnung ist, will Ruth Röcher jedoch nicht hinnehmen. Die Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Chemnitz ergreift klar Partei für ihre Stadt, in der sie lebt - und auch gerne lebt. „Das ist nicht die Chemnitzer Gesellschaft, die da letzte Woche randaliert hat“, sagt Röcher gegenüber FOCUS Online. Die rechten Kräfte vor Ort seien sehr gut vernetzt, weshalb es ihnen gelungen sei, viele Menschen von außerhalb zu mobilisieren. Denn die Chemnitzer seien ihrem Empfinden nach überhaupt nicht so, wie sich die Stadt nach außen hin präsentiert hat, sagt Richard.
Im Gegenteil – sie habe „wirklich noch nie, auf gar keinen Fall“ erlebt, dass man sie oder ein anderes Mitglied der jüdischen Gemeinde angefeindet habe. Bei den Demonstrationen seien auch viele „Vernünftige“ mitgelaufen, deren Anliegen es nur gewesen sein, ihre Meinung kundzutun, dafür müsse man Verständnis haben. Zur städtischen Politik habe die Gemeinde ein gutes Verhältnis, die Stadt gehe sehr offen und freundlich mit der Gemeinde um. Politik im Allgemeinen sei ihr schon wichtig, doch sie dürfe nicht zu viel Einfluss auf das kulturelle Leben haben.
Für Nidal Al Nassralla wäre es wohl das schönste Szenario, wenn sich der politische Einfluss nie auf seine Kultur, seine Initiative auswirken würde. Unterstützung seitens der Politik hätte er aber schon gerne, laut ihm ist seine Initiative die einzige in Freiberg, die keinen einzigen Cent von der Stadt bekommt. So sei es für ihn und die anderen Mitglieder von „Neue Heimat“ immer schwieriger, die Finanzierung der Kulturfeste zu stemmen. Eine Verbesserung der Situation ist in Sicht: Al Nassralla wartet nur noch auf seine Approbation, um auch in Deutschland als Zahnarzt praktizieren zu dürfen.
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