Malerisch klebt die zu Gohrisch zählende Gemeinde Cunnersdorf im Schoß sanfter Hügel, die sich zwischen den niedrigen Felsmassiven des Elbsandsteingebirges schlängeln. Die Menschen haben hier einen Steinwurf von der tschechischen Grenze nach der Wende eifrig CDU gewählt, von den Gemeinde- und Kreistagswahlen über das Land Sachsen bis hin zum Bund.
Dass die Nachwende-Uhren hier jedoch nicht mehr so ticken wie zu Zeiten von „König“ Kurt Biedenkopf als erstem CDU-Landesvater und prominentem politischen West-Import, hat die CDU als Merkel-Partei brutalstmöglich vor knapp einem Jahr erfahren. Denn am 24. September 2017 verwiesen die Sachsen bei der Bundestagswahl auf Landesebene mehrheitlich ihre neue „Einheitspartei“ mit 26,9 Prozent auf den zweiten Platz – 0,1 Prozent hinter den „Wahlsieger“ AfD.
Enttäuschung über CDU ins Gesicht geschrieben
Im Kurort Gohrisch fiel die Schmach für die Partei des Einheitskanzlers Helmut Kohl besonders bitter aus. Denn für die Union stimmten hier nur 19,5 Prozent der Wähler. Und damit nicht einmal halb so viel wie die AfD, die 41,9 Prozent erzielte.
Die Enttäuschung steht Viola Schäd noch heute ins Gesicht geschrieben, wenn sie auf diese Niederlage angesprochen wird. Die 51-Jährige sitzt für die CDU seit Jahren im Gohrischer Stadtrat. „Die CDU hatte mich damals überzeugt. Ich habe ihren Politikern geglaubt, Kohl allen voran.“ Und zwar so sehr, dass sie über das Thema sogar mit ihrem Vater stritt. Einem Donauschwaben, der samt seinen Eltern vertrieben worden war, bevor er nach Sachsen kam.
Stimmen aus Sachsen
Ein Mann wird in Chemnitz auf offener Straße erstochen, danach kommt es zu Demonstrationen und Ausschreitungen. Sachsen steht derzeit international im Fokus. FOCUS Online wollte wissen: Wie sieht es dort wirklich aus und was denken die Menschen vor Ort über die Ereignisse? Unsere Reporter sind auf Spurensuche in Sachsen gegangen. Sie zeigen, welche Themen die Sachsen in ihrem Alltag beschäftigen. Haben Sie Angst, verspüren sie Hass? Schämen sie sich für ihr Bundesland? Und: Welche Forderungen stellen sie an die Politik?
„Mein Vater hat Recht behalten“
Wenn die Mutter von zwei Söhnen nun der brutalen Tötung eines 35-Jährigen in Chemnitz und die hässlichen Bilder von Ausländerhatz und Nazigegröle kommentieren soll, kommen auch diese Erinnerungen wieder in ihr hoch. „Sie haben Vertreibung selbst erlebt und dafür in der DDR gelitten, die das ganz anders dargestellt hat“, sagt Schäd, die seit 2010 einen Pflegedienst leitet.
Als sie jedoch auf die Versprechen von Kohl zu reden kommt, verfinstert sich schlagartig ihr Gesichtsausdruck. „Mein Vater hat mich damals gewarnt und gesagt: ‚Täusche dich nicht, er tut das nicht für den Osten, sondern für den Westen. Du wirst sehen, in 25 Jahren werden die Renten und Löhne noch immer nicht an das Westniveau angeglichen sein.‘ Er wurde nicht alt, mein Vater, und starb mit 67. Und er hat Recht behalten“, sagt sie und wischt sich Tränen aus den Augen
Erschüttert über „Hass all dieser tätowierten Leute“
„Zutiefst erschüttert“ habe sie bei den Bildern aus Chemnitz vor allem der „Hass in den Gesichtern von all diesen tätowierten Leuten“. Und die Tatsache, dass dort so viele junge Menschen mitgelaufen sind. Jungs so alt wie ihre beiden eigenen, Anfang/Mitte 20. „Über sie bekomme ich mit, wie groß die Desillusionierung in dieser Generation ist.“ Vielen von ihnen fehle der Antrieb, sich zu engagieren. Sie hätten zum Beispiel „irrationale Angst vor einem Krieg, ohne zu wissen, worüber sie überhaupt reden“. Das eine solche Generation anfällig für populistische Parolen sei und bei rassistischen Demos wie in Chemnitz einfach mitlaufe, wundere sie am Ende wenig.
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„CDU treibt AfD Wähler direkt in die Arme“
Doch das ist für die freundliche Frau, die mit heller und leiser Stimme im Wohnzimmer am Tisch unter einem Bild ihres Vaters spricht, nicht der einzige Grund. Der andere hat sehr viel zu tun mit dem, was sie selbst in den vergangenen Jahren als Gemeinderätin im Nachwende-Gohrisch erlebt hat. Und mit der CDU, in die sie nur deswegen nie eingetreten sei, weil sie gegen Parteien eine Aversion habe, seit die SED einst vergeblich versucht hatte, sie mit einem Studienplatz zum Eintritt zu erpressen. Viola Schäd geht es um die politische Kärrnerarbeit der Basis, „zu der die Parteioberen inzwischen völlig den Kontakt verloren haben“, schimpft sie, die Stimme noch immer ruhig, die Worte des Vorwurfs jedoch in die Länge ziehend. „Das ist eine Ignoranz, mit der die CDU der AfD die Wähler direkt in die Arme getrieben hat.“
Enttäuscht über mangelnde Hilfe
Um konkrete Beispiele ist die Altenpflegerin nicht verlegen. „Jahrelang“ habe sie beispielsweise mit anderen Ortsräten für eine Senkung der Abwassergebühren in Gohrisch gekämpft, die mit 5,80 Euro „die höchsten in ganz Deutschland“ gewesen seien. Ende letzten Jahres seien sie dann gesenkt worden. Doch der Weg bis dahin sei „steinig und ermüdend“ gewesen, resümiert die CDU-Stadträtin. „Vor allem in der CDU sind wir bei Entscheidungsträgern immer wieder auf Widerstand gestoßen, und zwar ganz gleich, um welches Thema es ging – von Bürgermeistern über den Landkreis bis hin zur Landes- und Bundesregierung“, sagt Schäd.
Das gelte auch für die Einrichtung eines Flüchtlingsheims, das nur 100 Meter von ihrem eigenen Haus entfernt in der 450-Seelen-Gemeinde 2015 für zwei Jahre eingerichtet worden sei und gegen das es viel Widerstand gegeben habe. „Was hat uns der CDU-Landrat damals nicht alles versprochen?“ Einen Spielplatz sollte es geben. Immer wieder sei versichert worden, die Cunnersdorfer bei der Unterbringung von 60 Familien zu unterstützen. Dass Familien kamen, hätte im Übrigen die Cunnersdorfer durchgesetzt, weil sie keine Belegung mit jungen, alleinstehenden Männern haben wollten. „Doch als wir nach der Hilfe gefragt haben, wurde geleugnet, sie uns je angeboten zu haben.“
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Spahn-Vorschlag „völlig losgelöst von Realität“
Auch mit der Bundespolitik ist Schäd nicht zufrieden. Die Politik des neuen Gesundheitsministers Jens Spahn sei streckenweise „völlig losgelöst von der Realität“, sagt die Altenpflegerin. So zum Beispiel die Ankündigung Spahns aus dem Februar, mit 13.000 neuen Stellen den Mangel an Fachpersonal für die Altenpflege abzubauen. „Ich würde ja jemanden einstellen“, sagt Schäd. „Aber die Ausbildung für neue Fachkräfte dauert. Und von der Arbeitsagentur Pirna bin ich wieder weggeschickt worden mit der Begründung, das habe keinen Sinn, eine Stellenausschreibung aufzunehmen, da sich eh niemand melde.“ Ebenso wenig zu rechtfertigen sei im Jahr 29 nach der Wende, dass wegen der geringeren Beitragssätze der Krankenkassen im Osten das Leistungsangebot der Altenpflege niedriger als im Westen sei.
„Zu viele Staatssekretäre kleben an ihren Posten“
Was das „Problem Zuwanderung“ angeht, könne sie die Enttäuschung der Menschen verstehen. Es sei „gut“, dass sich das neue Kabinett Merkel endlich zu einem Einwanderungsgesetz durchgerungen habe. Aber das habe „viel zu lange gedauert“, moniert Schäd. „Ich bin nicht ausländerfeindlich, und wir wollen helfen, wo wir können. Aber in der Vergangenheit sind einfach zu viele Wirtschaftsflüchtlinge zu uns gekommen, die denken, dass bei uns gebratene Tauben durch die Luft fliegen. Deshalb finde ich gut, dass damit jetzt Schluss ist.“
Doch ob das helfe, um etwa in Sachsen die „Entfremdung der Menschen zu den alten Volksparteien“ zu bremsen, wage sie zu bezweifeln. Selbst wenn sie den Eindruck habe, dass sich unter dem neuen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer etwas ändern könnte, klebten in Dresden „viel zu viele Staatssekretäre an ihren Posten, anstatt sich um das Gemeinwohl zu kümmern“, ärgert sich die Kommunalpolitikerin.
„Menschen haben die Nase voll von Ignoranz und Arroganz“
Selbst auf Bundestagsebene habe sich die Bedeutung des „Warnschusses“ an die alte Ost-Garde der CDU vom 24. September 2017 noch nicht herumgesprochen, stellt Viola Schäd enttäuscht fest. So hatte etwa Klaus Brähmig, der für ihren Wahlkreis 158 „Sächsische Schweiz/Osterzegebirge“ seit 1990 im Bundestag saß und vor einem Jahr sein Direktmandat an die damalige AfD-Chefin Frauke Petry verlor, nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungsgespräche tatsächlich mit Neuwahlen kokettiert, um erneut anzutreten, kolportierte die „Sächsische Zeitung“ vergangenen November. „Ich glaube, da steckt alles drin in diesem Verhalten. All die Ignoranz und Arroganz, von der so viele Menschen hier die Nase voll haben. Und im Wahlkreis hat stand er für die Sorgen der Menschen so gut wie nie zur Verfügung“, sagt Kommunalpolitikerin Schäd.
„Demokratieabbau hat längst begonnen“
Die Enttäuschung der Gohrischer Gemeinderätin über den Umgang der CDU mit der Basis sitzt inzwischen so tief, dass sie überlegt, bei den nächsten Kommunalwahlen „das Handtuch zu werfen“. Dass die AfD ein „leichtes Spiel“ habe, „die wachsenden Stimmen der Unzufriedenen einzufangen“, wundert sie nicht. Was nicht bedeute, dass sie das nicht bedauere. „Die AfD lebt von Stammtischparolen, mehr nicht. Sie haben keine zündenden Lösungsvorschläge und auch nicht das Personal, das sie bräuchten, um ernsthaft und effektiv regieren z u können.“
Am möglichen Ende ihres politischen Engagements für die CDU bedrücken sie vor allem zwei große Sorgen. Zum einen die Tatsache, dass die AfD die Unzufriedenheit der Menschen bei tragischen Vorfällen wie in Chemnitz „auf primitive Weise instrumentalisiert“. Und zum anderen die „Sorge, dass es der AfD bei der Landtagswahl 2019 durchaus gelingen könnte, die CDU zu schlagen“. Auf die Frage, ob das am Ende einen Abbau an Demokratie bedeuten würde, antwortet die Altenpflegerin aus Gohrisch nur matt: „Der hat doch schon längst begonnen.“
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