Kanzlerin Merkels Politik war Naturwissenschaft mit anderen Mitteln. Sie stand für eine deutsche Nachkriegspolitik, die jetzt zu Ende geht. Der Chefredakteur der Schweizer "Weltwoche", Roger Köppel, analysiert die Gründe für das Ende der Ära Merkel. Ein Gastbeitrag.
Mit Angela Merkel geht jetzt die deutsche Nachkriegszeit zu Ende. Damit ist nicht gemeint, dass die Deutschen wieder vor einem Krieg stünden, im Gegenteil. Deutschland normalisiert sich.
Kanzlerin Merkel stand für die bewährten Grundpfeiler der deutschen Politik nach 1945: Westbindung, soziale und immer sozialer werdende Marktwirtschaft, Wiedervereinigung, Ökologie, Verdrängung des Nationalstaats, die EU als Leitstern und Vaterlandsersatz.
Merkel verkörperte diesen antinationalen ökobürgerlichen deutschen EU-Nachkriegskonsens eher, als dass sie ihn gestaltete. Merkel stand für Kontinuität, für Fortsetzung. Die Kanzlerin war politisch die Quersumme aller Regierungen, die ihr vorausgingen.
Über den Gastautor
Der Schweizer Journalist Roger Köppel ist ehemaliger Chefredakteur der Zeitung "Die Welt", Chefredakteur und Verleger des Schweizer Wochenmagazins "Weltwoche" und sitzt seit 2015 als Mitglied der Schweizerischen Volkspartei (SVP) im Nationalrat der Schweiz.
Teile von Kohl und Schröder übernommen
Von CDU-Kanzler Helmut Kohl übernahm sie die Marktwirtschaft und die Europapolitik. Im Zweifel für die EU. Von SPD-Kanzler Gerhard Schröder und seinen grünen Mitstreitern übernahm sie Teile des linken Programms, aber auch die Agenda-Politik, der sie viel verdankt. Die SPD machte sie dabei fast überflüssig.
Es war der Versuch, das biedere CDU-Deutschland von Kohl mit dem progressiven Nach-68er-Deutschland von Rotgrün zusammenzubringen, zu versöhnen, die beiden grossen Milieus nicht gegeneinander prallen zu lassen, alles Spaltende, alles Polarisierende, alles Konfrontative zu vermeiden, abzudrängen.
Merkel machte kühle Politik ohne Pathos
Merkels Politik war Naturwissenschaft mit anderen Mitteln, ausgerichtet auf die Herstellung des grossen Wärme-Gleichgewichts, in dem sich die Gruppen, die Parteien, die Gesinnungen, die Mentalitäten, die Menschen wie Elementarteilchen annähern, angleichen in einer harmonischen Gemeinschaft, für die Politik nicht mehr im Austrag von weltanschaulichen Gegensätzen besteht, sondern nur noch als technokratisches Verfahren zur Lösung konkreter Probleme dient.
Dieser kühle, pathosfreie Ansatz kam lange sehr gut an. Nach dem Pfauengehabe der großen Egos Kohl und Schröder war Merkel erfrischend, befreiend, zeitgemäss, modern. Es miefte nicht bei ihr. Sie umkurvte den Resonanzkasten deutscher Traditionen, den Giftschrank, alles, was aus den Tiefen und Abgründen der deutschen Seele und Geschichte dampfte. Ihre Politik wirkte so keimfrei wie ihr Kanzleramt in Berlin, die „Waschmaschine“ aus Beton und Glas, Merkels Laboratorium, ein Tempel eisiger Sachlichkeit.
Die Versöhnerin hinterlässt eine gespaltene Republik
Merkel, diese wandelnde Synthese, diese Einpersonen-Großkoalition, vereinte scheinbar nicht nur links, rechts, grün und EU. Sie stand auch für die Wiederherstellung der deutschen Einheit, indem sie als in Hamburg geborene Westdeutsche bei der Wende aus dem Osten kam. Man hat ein großes Theater gemacht um ihre DDR-Prägungen. Ihre wichtigste war wohl: In einem historisch zerteilten, zersägten Land sollten Regierungschefs einen, nicht trennen.
Die Ironie ist, man kann es auch Tragik nennen, dass ausgerechnet die Allversöhnerin, die Synthese-Frau, die provokationsunfreudige Konsenspolitikerin Merkel die vermutlich gespaltenste, polarisierteste, balkanisierteste Bundesrepublik hinterlässt, die es je gegeben hat. Merkel wollte alles zusammenfügen. Jetzt sieht sie vieles auseinanderstreben, auseinanderfallen: Die Mitte löst sich auf. Rechts und links erstarken die Pole. Noch nie war bei vielen so wenig Vertrauen in die EU, in die Regierung wie heute.
Gegner höhnen über Fehler von 2015
Was lief schief? Gewiss, am Ende trägt der Chef, trägt die Chefin die Verantwortung. Das machte Merkel bei ihrer Teil-Rücktrittsrede am Montag deutlich. Ihre Gegner höhnen, dass die Kanzlerin gewaltige Fehler machte, vor allem bei der zeitweiligen Grenzöffnung 2015.
Politiker fallen schnell. Ein prominenter Journalist nannte Merkels Migrationspolitik in einer Schweizer Zeitung einen „in der Geschichte der deutschen Kanzler beispiellosen Fehler.“ Kanzlerin Merkel schon schlimmer als Kanzler Hitler?
Gemach, gemach. Man kann es auch mit der Apokalypse übertreiben.
Merkels Untergang war die EU
Merkel machte Fehler, natürlich, aber diese Fehler waren nicht in erster Linie das Resultat persönlicher Fehlentscheidungen, sondern vor allen die Folge von überpersönlichen Konstellationen, aus denen auch die Physikerin, die angeblich alles vom Ende her denkt, nicht herausfand.
Merkels Untergang war die EU. Die institutionelle Brüsseler Fehlkonstruktion stand am Ursprung der Krisen, mit der die Kanzlerin nicht fertig wurde. Zuerst kam der Euro, diese Gemeinschaftswährung, die weltfremd über unterschiedlichste Volkswirtschaften gestülpt wurde und heute trügerisch den Export beflügelt, aber die deutschen Ersparnisse bedroht.
Hätte es Merkel besser und anders lösen können?
Noch schlimmer schlug die Migrationskrise ein. Wie beim Euro so auch hier: Es funktioniert nicht, wenn alle plötzlich für alle Grenzen verantwortlich sein sollen und niemand mehr für seine eigenen. Nicht die humanitäre Misere, die institutionelle Misere der Europäischen Union an den Aussengrenzen hat die Völkerwanderung in Gang gebracht.
Hätte es Merkel besser und anders lösen können? Sicher. Nur wie? Dass eine deutsche Kanzlerin keine Schäferhunde und Sturmtruppen nach Griechenland schickt, um die Migranten abzublocken, ist vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte nachvollziehbar. Merkel musste ausbaden, was die EU-Konstrukteure angerichtet haben.
Ohne EU gäbe es keine AfD
Merkel sinkt mit einem System, das den Stützpfeiler der deutschen Nachkriegsidentität ausmachte. Nach dem Weltkrieg konnte man nicht mehr Deutscher sein. Dank der EU kehrten die Deutschen entteufelt auf die Bühne zurück. Die EU war Ersatzvaterland, natürliche Rückfallposition der Politik. Jetzt ist der einstige Glücks- und Wohlstandsbringer zum Problem geworden.
Massenmigration, Euro-Debakel, Polarisierung, Populismus und Nationalismus: Das sind nur die Symptome. Ohne EU gäbe es keine AfD. Das Problem ist die institutionelle Unordnung der heutigen EU irgendwo zwischen Bundesstaat und Staatenbund. Merkel flickte und reparierte, wo es ging. Jetzt braucht es richtige Reformen, Behandlungen an der Wurzel.
Merkels Nachfolger müssen das Tabu anpacken
Für die Deutschen ist es der Griff in den Giftschrank. Sie müssen sich ein Stück weit mit ihrem vergifteten Nationalstaat versöhnen, denn ohne stärkere Nationalstaaten wird es in Zukunft keine EU geben. Der Versuch, der deutschen Geschichte zu entkommen, den Nationalstaat in einem Supranationalstaat aufzulösen, ist gescheitert.
Merkels Nachfolger müssen das Tabu anpacken, das zu meiden sich die Kanzlerin lange leisten konnte. Die von ihr nach links geschobene CDU wird ihre Ausrichtung etwas korrigieren müssen. Tut sie das nicht, wird vielleicht die AfD, wenn sie das taugliche Personal zusammenbringt, als immer wichtiger werdende Kraft die Normalisierung Deutschlands weiterführen.
Normalisierung heißt: Der Nationalstaat Deutschland wird die EU weder aufsprengen noch sich darin auflösen. Er wird sich verlässlich, aber eigenständiger als heute in einer EU einbetten, die demokratischer, menschenfreundlicher, weniger zentralistisch und erfolgreicher sein wird. Oder nicht sein wird.
No comments:
Post a Comment