Am Samstag läuft das Rüstungsabkommen INF zwischen Russland und den USA aus, das seit dem Ende des Kalten Krieges besteht. Experten und Politiker befürchten eine neue Aufrüstungsspirale in Europa. Der Westen muss dringend handeln. Warum Deutschland dabei eine Sonderrolle zukommt.
Die drei Buchstaben INF stehen wie keine anderen für Abrüstung, für Frieden in Europa, für das Ende des Kalten Krieges. Doch am morgigen Samstag könnte diese Ära, die seit 1987 währt, zu Ende sein. Die USA und Russland wollen es so. Wo einst US-Präsident Ronald Reagan und sein russischer Amtskollege Michail Gorbatschow einen Vertrag zur Abrüstung vereinbarten, haben sich Donald Trump und Wladimir Putin 32 Jahre später in eine Lage manövriert, aus der es keinen Ausweg mehr zu geben scheint – außer den Vertrag aufzukündigen.
Droht jetzt ein neues Wettrüsten, eine Aufrüstungsspirale gar? Und welche Auswirkungen hat das Ende des Vertrages auf Deutschland und Europa, das eingekeilt zwischen den beiden Atommächten liegt?
Der INF-Vertrag: ein zentraler Pfeiler der Abrüstungspolitik
Der INF-Vertrag zwischen den USA und Russland sieht die Abschaffung nuklear bestückbarer Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5500 Kilometern vor.
Die USA und die Nato werfen Russland vor, mit seinem neuen, nuklearfähigen Marschflugkörper 9M729 gegen das Abkommen zu verstoßen, da er eine Reichweite von 2600 Kilometern haben soll und damit europäische Hauptstädte bedrohe. Russland weist die Vorwürfe zurück. Nach Angaben aus Moskau hat der neue Marschflugkörper nur eine Reichweite von 480 Kilometern. Die russische Regierung wirft zudem ihrerseits der Nato vor, mit der Stationierung des Raketenabwehrsystems MK41 in Rumänien gegen das Abkommen zu verstoßen.
Brisante Lage für Europa
Für Europa wäre die Aufkündigung des Vertrages brisant, weil es jetzt eine eine Diskussion über atomare Aufrüstung in Europa geben wird. Militärs glauben, dass sich nur so ein langfristiges strategisches Gleichgewicht und eine Abschreckung sichern ließe.
Den ersten Schritt in diese Richtung haben die USA bereits gemacht: Sie entwickeln neue Waffensysteme. Auch Russland wird, kann und muss nachziehen, vermuten Experten.
Denn seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion stehen Nato-Truppen an der Grenze zu Russland. Der INF-Vertrag schützt Moskau nicht mehr vor einer möglichen Bedrohung durch den Westen. Deswegen war Russland, Putin inklusive, schon lange kein Fan des INF-Vertrages mehr. Durch die Aufkündigung seitens der USA kann Putin jetzt sogar noch Trump die Schuld in die Schuhe schieben.
"Viel schlimmer kann es eigentlich nicht kommen"
Weil Moskaus Mittelstreckenrakete aber beinahe jedes Ziel in Europa erreichen kann, sehen Sicherheitsexperten die strategische Stabilität Europas massiv geschwächt. Die russische Taktik dahinter: Moskau will einen Keil zwischen die Nato-Bündnispartner in Europa und die USA treiben.
Der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, spricht bereits davon, dass die „europäische Sicherheitsarchitektur mit der Abrissbirne peu à peu zerbröselt" werde. Ischinger sieht die Nato in einer großen Krise: "Viel schlimmer kann es eigentlich nicht kommen."
Warum handelt Trump so?
Doch warum wollen die USA unbedingt raus aus dem Vertrag? „Der Schritt, den INF-Vertrag aufzukündigen, ist für die Amerikaner insofern ein Eigentor, als die Möglichkeiten der Russen, neue landgestützte Marschflugkörper in Europa zu stationieren, kurzfristig größer sind“, sagt Oliver Meier, Sicherheits-Experte von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Die Aufrüstung in Europa habe schon lange begonnen, auch durch die Stationierung der russischen Marschflugkörper.
Die USA wollen das bislang nicht sehen, denn sie denken mehr an sich selbst als an die Nato. „Den INF-Vertrag zu kündigen, ist ein typisches Trump-Muster. Er kündigt alte Abkommen auf, um einen neuen Deal zu erreichen, der besser für die USA ist“, analysiert Meier. Trump hat bereits in der Vergangenheit gezeigt: Er mag keine Verträge, die er nicht selbst verhandelt hat. Schon gar nicht, wenn sie älter als 30 Jahre sind.
Deutschland unter Zugzwang
Das drohende Ende des Vertrages bringt nicht nur Europa unter Zugzwang, sondern auch Deutschland. Seit Beginn 2019 hat es einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat, im April sogar den Vorsitz.
Außenminister Heiko Maas (SPD) betrieb deswegen bereits in den vergangenen Wochen Pendeldiplomatie zwischen Moskau und Washington. „Dieser Vertrag hat Europa seit über 30 Jahren sicherer gemacht. Er ist und bleibt ein wichtiger Baustein der europäischen Sicherheitskultur und deshalb haben wir ein großes Interesse daran, dass er auch erhalten bleibt. Letztlich berührt er unsere Sicherheitsinteressen auf elementare Art und Weise“, sagte der Außenminister nach einem Treffen mit seinem russischen Kollegen Sergej Lawrow.
SICHERHEITSREPORT DEUTSCHLAND
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Er fordert ein „neues und zeitgemäßes Abkommen“ zur Rüstungskontrolle. Dieses solle Deutschland im Sicherheitsrat vorantreiben, wenn es den Vorsitz hat. „Sonst droht eine neue Aufrüstungsdebatte“, sagt Djir-Sarai.
Putin will des Westen vorführen und spalten
Dass eine Aufrüstungsspirale in Europa droht, sieht der Außenpolitiker und Transatlantiker Jürgen Hardt (CDU) noch nicht. Der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion sagt zum Säbelrassen in Moskau: „Mehr als eine militärische Bedrohung ist es ein Test Russlands, die USA und Europa zu spalten. Putin hat kein Interesse daran, übermäßig viele Rubel in Waffen zu investieren, aber er hat Lust ,den Westen vorzuführen.“ Er glaubt, dass die Nato nun eine gemeinsam abgestimmte Antwort Richtung Moskau schicken müsse. Wichtig dabei: „Wir sollten keine Option vorzeitig vom Tisch nehmen“, glaubt Hardt.
Bei Politikern und Militärexperten gelten derzeit vier Szenarien im Umgang mit Russland als denkbar.
- Die USA und Russland schaffen es doch noch, den alten Vertrag zu erhalten.
- Es gibt einen neuen, multilateralen Vertrag mit anderen Staaten wie China, Iran, Indien und Nordkorea, die allesamt ebenfalls über Waffensysteme verfügen, die nicht INF-konform sind.
- Die Nato forciert den Aufbaue neuer Abwehrsysteme in Europa.
- Die Nato entwickelt Systeme, die das strategische Gleichgewicht wiederherstellen würden – zu Deutsch: Aufrüstung.
Auch der Sicherheitsexperte Christian Mölling von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) warnt vor Denkverboten: „Bislang hat Deutschland auf das kommende Ende des INF-Vertrages offiziell vor allem mit Erklärungen gegen eine nukleare Aufrüstung und für mehr Rüstungskontrolle reagiert. Es sollte darüber nachgedacht werden, welche Mischung aus politischen, strategischen und militärischen Optionen angemessen ist.“
Als Handlungsmöglichkeiten kommen laut Mölling nun eine weitere rasche und durchgreifende Verstärkung der Verteidigungsfähigkeit der Nato, moderne Defensivsysteme und konventionelle Marschflugkörper in Betracht.
Eine erneute Aufrüstung gilt selbstverständlich als Ultima Ratio. Außenpolitiker Hardt sagt aber: „Ein neuer Vertrag muss die gleiche Wirkkraft entfalten, wie der alte INF-Vertrag.“
Schnelle Einigung unwahrscheinlich
Doch SWP-Experte Meier erteilt einer schnellen Einigung eine Absage – auch wegen der Sturheit Trumps: „Die USA rütteln an den Grundfesten der Nato. Eine diplomatische Lösung erscheint mir unwahrscheinlich, da sowohl die USA als auch Russland im Moment nicht signalisieren, einen Schritt auf die Gegenseite zugehen zu wollen.“
Zudem müssten Russland und die USA anderen Vertrags-Staaten wie China, Indien und Iran einen Anreiz bieten, bevor ein neuer INF-Vertrag entstehen kann. „Ein wichtiger Schritt wäre, dass sie selbst abrüsten und die Zahl ihrer Atomwaffen reduzieren. Denn Russland und die USA verfügen über immer noch mehr als 90 Prozent der weltweit vorhandenen Atomwaffen“, sagt Meier.
Maas: Wollen nicht, dass Deutschland Schauplatz nuklearer Aufrüstungsspirale wird
Die deutsche Position ist eindeutig: „Wir wollen den INF-Vertrag behalten, weil wir nicht wollen, dass Deutschland oder irgendein anderes Land in Europa zum Schauplatz einer nuklearen Aufrüstungsspirale wird. Deshalb brauchen wir diesen Vertrag“, sagt Maas. „Wir müssen dringend die Rüstungskontrolle insgesamt und weiter auf die internationale Tagesordnung setzen.“ Die Fragen der internationalen Rüstungskontroll-Architektur seien auf der internationalen Agenda in der Vergangenheit viel zu selten vorgekommen.
Klar ist: Das drohende Ende des INF-Vertrages ist ein Weckruf – für Russland, die USA, aber besonders für Europa. Es zeigt deutlich, dass Verträge, die während des Kalten Krieges geschlossen wurden, heute nicht mehr anwendbar sind. Das Machtgleichgewicht hat sich zugunsten anderer Länder, die ebenfalls im Besitz von Atomwaffen sind, verschoben. Der technische Fortschritt beschleunigt die Debatte weiter und macht sie unübersichtlich.
Am 2. August 2019 wird der Austritt der USA nach Kündigung des INF-Vertrags rechtskräftig. Sechs Monate bleiben den Diplomaten nun noch, um das Unwahrscheinliche möglich zu machen und Europa vor einem Abrutschen in Verhältnisse des Kalten Krieges zu bewahren.
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