Die bürgerliche Mitte, wo sich Ingenieure, Softwareentwickler und Facharbeiter ihren Weg nach oben bahnen, greift die SPD mit ihrer Steuerpolitik an. Hier allerdings geht man subtiler ans Werk. Wie ein Hütchenspieler in der Fußgängerzone lenkt Finanzminister Olaf Scholz das Publikum mit dem Spitzensteuersatz ab. Wenn für „sehr hohe“ Einkommen der Spitzensteuersatz moderat um drei Prozentpunkte auf 45 anstiege, fände er das „nur gerecht“, sagte Scholz der „Zeit“.
Derweil das Publikum gebannt die „Gerechtigkeitsdebatte“ verfolgt, greift die real existierende SPD-Finanzpolitik der sozialen Mitte ohne Vorwarnung ins Portemonnaie. Zwei Wege des Zugriffs haben sich bewährt.
Erstens: Systematisch wird seit Jahrzehnten der Satz für die Mehrwertsteuer erhöht. Das mindert insbesondere bei der unteren Mittelschicht die Kaufkraft. Dort, wo das versteuerte Einkommen zu nahezu 100 Prozent in den Konsum fließt, greift diese indirekte Steuer von mittlerweile 19 Prozent härter zu als die Einkommenssteuer. Die kleinen Leute werden klein gehalten.
Zweitens: Der Spitzensteuersatz wurde zwar gegenüber früheren Jahrzehnten abgesenkt, wie Olaf Scholz zurecht sagt. Zugleich aber hat man die Einkommensgrenze, ab der dieser teuerste Steuertarif fällig wird, seit Jahrzehnten verschoben. Lag 1960 die Einkommensgrenze für den Spitzensteuersatz beim 16-fachen des Durchschnittseinkommens, trifft der Höchstsatz heute bereits Verdiener, die rund das Doppelte des Durchschnittseinkommens nach Hause bringen. Der Facharbeiter gerät damit ins Fadenkreuz der sozialdemokratischen Finanzpolitik.
Toben die Besserverdiener, schnurrt die SPD-Linke wie eine Katze
In Summe steigt damit die Steuerquote – das Steueraufkommen in Relation zur Wirtschaftsleistung – seit 2010 kontinuierlich an (Grafik oben), auf zuletzt 23,6 Prozent. Das führt zu immer neuen Rekorden bei den Steuereinnahmen des Staates (Grafik unten) und im Gegenzug zu ebenso rekordverdächtigen Abflüssen bei den sozialdemokratischen Wählerinnen und Wählern. Die wahre Gerechtigkeitsdebatte traut sich gerade die SPD nicht zu führen, weil die zusätzlichen Milliarden schon verplant sind – zum Beispiel für die Rente und den weiteren Ausbau des Sozialstaates. Das Dilemma der Partei: Die SPD braucht das Geld ihrer Wähler, um damit ihre Wähler zu beeindrucken. Das Kaninchen, das die SPD aus dem Hut zaubert, hat die eigene Klientel vorher hineingesteckt. Die jetzige Spitzensteuerdebatte hat Scholz noch aus einem anderen Grund losgetreten. Er will gegen Annegret Kramp-Karrenbauer als Kanzler-Kandidat der SPD antreten.
Zur Person
Gabor Steingart, 56, ist Journalist und Buchautor. Sein kostenloses Morning Briefing erhalten Sie hier: www.gaborsteingart.com
Dafür braucht er wiederum die Zustimmung des linken Flügels seiner Partei. Scholz weiß ja genau, wie dessen Gefühlshaushalt funktioniert: Toben die Besserverdiener, schnurrt die SPD-Linke wie eine Katze. 2018 rutschte Italien als erstes Land der Eurozone in die Rezession. Die Wirtschaft schrumpfte im dritten Quartal 2018 um 0,1 Prozent und im vierten sogar um 0,2 Prozent. Die Prognosen für 2019 deuten auf ein Jahr der Probleme hin. Sinkt die Wirtschaftsleistung, wird die Bedienung der alten Schulden umso schwieriger. Ministerpräsident Giuseppe Conte, der im Haushaltsstreit mit der EU eine Neuverschuldung von rund zwei Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung zugesagt hatte, ist um die vor ihm liegende Wegstrecke nicht zu beneiden. Bei einer Staatsverschuldung von rund 2,3 Billionen Euro erreicht Italien einen Anteil an der Gesamtverschuldung des Euroraums von 23 Prozent.
Dieser Beitrag wird bereitgestellt von: Gabor Steingart. Eine redaktionelle Prüfung durch FOCUS Online hat nicht stattgefunden.
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