Kurz nachdem er seine Wahlkampagne eingeleitet hatte, bat Vahap Secer, Kandidat für das Bürgermeisteramt der türkischen Stadt Mersin, die Bewohner seines Wahlkreises darum, ihm in einer Onlineumfrage ihre dringlichsten Sorgen mitzuteilen.
Ein Zehntel der Umfrageteilnehmer stimmten dabei für die Kategorie "Verkehr und öffentlicher Nahverkehr". Ein Fünftel erwähnten die hohen Arbeitslosenzahlen. Und eine überwältigende Menge von 66 Prozent gab als Antwort an: "Die Syrer".
Im Ausland wurde die Türkei viel dafür gelobt, den 3,6 Millionen syrischen Flüchtlingen, die seit Beginn des mörderischen Bürgerkrieges in Richtung Norden geflohen sind, ein freundliches Willkommen bereitet zu haben. Doch im Land selbst steigt seit langem die Frustration – nicht nur über die Politik der Regierung, sondern auch über die Flüchtlinge selbst, vor allem angesichts einer seit längerem anhaltenden Wirtschaftskrise.
Im Wahlkampf wurde Flüchtlingsfrage von Oppositionspolitikern häufig bespielt
Im Vorfeld der letzten Kommunalwahlen, bei denen die Oppositionskräfte der regierenden AKP vor allem in den Großstädten eine empfindliche Niederlage zufügten, machte sich diese Frustration besonders stark bemerkbar. Gerade im Wahlkampf wurde die Flüchtlingsfrage von Oppositionspolitikern besonders häufig bespielt.
Die Vorsitzende der nationalistischen Iyi-Partei, Meral Aksener, versprach, die Syrer sobald als möglich wieder in ihre Heimat zurückzuschicken. Eine ihre Kolleginnen behauptete, dass die Türkei sich nur dann aus der anhaltenden Rezession würde befreien könne, wenn die Syrer zuvor das Land verließen. Ein der säkularen republikanischen Volkspartei angehöriger, neu gewählter Bürgermeister einer nordtürkischen Kleinstadt beging seinen ersten Amtstag gleich damit, dass er den örtlichen Syrern mit sofortiger Wirkung alle sozialen Hilfeleistungen strich.
Sogar die AKP und ihr Parteiführer Recep Tayyip Erdogan, der vielen Flüchtlingen als Held gilt, deuteten an, dass die Syrer in der Türkei nicht länger willkommen seien. Dem Kandidaten der AKP bei den anstehenden Bürgermeisterwahlen in Istanbul sagen neueste Umfragen eine krachende Niederlage voraus.
Erdogan schlägt Umsiedlung in "Sicherheitszone" in Nordsyrien vor
Der ehemalige Premierminister warnte daher vor kurzem, er würde im Falle eines Wahlsieges dafür sorgen, dass alle Syrer, die sich als Bedrohung für die öffentliche Ordnung entpuppten, "bei den Ohren gepackt" und ausgewiesen würden. (Bei Redaktionsschluss des The Economist bearbeitete die türkische Wahlkommission noch immer einen Vorschlag der AKP, die Istanbuler Bürgermeisterwahlen abzusagen und neu anzusetzen, am 17.4. wurde der CHP-Kandidat Ekrem Imamoglu vorerst zum Bürgermeister erklärt).
Erdogan selbst schlug vor, zumindest einen Teil der syrischen Flüchtlinge in eine eigens zu diesem Zweck einzurichtende "Sicherheitszone" in Nordsyrien umzusiedeln. Dies wäre aus rechtlicher Sicht durchaus möglich. Die Syrer in der Türkei bekommen keinen formellen Flüchtlingsstatus, der sie vor einer Abschiebung schützen würde, sondern erhalten ausschließlich "temporären Schutz", einen Status, der ihre Ausweisung prinzipiell nicht ausschließt.
Die türkischen Politiker scheinen die Zeichen ihrer Wähler klar zu deuten. Die Abneigung gegenüber den Flüchtlingen scheint einer der wenigen Punkte zu sein, bei denen die türkische Öffentlichkeit sich vollkommen einig ist.
Türken wollen, dass Syrer wieder in ihre Heimat geschickt werden
Im letzten Jahr kam eine Studie zu dem Ergebnis, dass 86 Prozent aller Türken von ihrer Regierung erwarten, dass diese die Syrer wieder nach Hause schickt. "Erdogan ist ein wahrer Muslim, der den Flüchtlingen im Namen der Menschlichkeit unsere Türen und Tore geöffnet hat. Das war die richtige Entscheidung", sagt Ayhan, der in der Altstadt von Mersin ein Juweliergeschäft betreibt. "Doch wer als Gast kommt, der sollte das Land nach drei oder fünf Jahren auch wieder verlassen."
In Mersin, wo Syrer inzwischen mehr als zehn Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen, mehren sich die Beschwerden der Einwohner. Den Flüchtlingen wird vorgeworfen, sie untergraben die Löhne, trieben die Mietpreise in die Höhe und weigerten sich, ihre Steuern zu bezahlen.(Arbeitsgenehmigungen hat die Regierung nur an etwa 70.000 der Neuankömmlinge ausgestellt. Der Rest der Syrer arbeitet schwarz).
Viele Türken meinen auch, die Syrer hätten sich schlecht integriert, ein Vorwurf, den man sonst nur von europäischen Populisten im Bezug auf türkische Einwanderer nach Europa und ihre Nachfahren hört. Secer, der neue Bürgermeister der CHP in Mersin, sagt, dass derartige Ressentiments sich noch weiter verschlimmern könnten, wenn die Wirtschaft auch weiterhin schwächeln sollte und Jobs dadurch immer rarer würden. Die Arbeitslosenquote stieg in der Türkei vor kurzem auf 15 Prozent, ihren höchsten Stand seit zehn Jahren.
Die Arbeitslosigkeit steigt – die Wut auf Syrer auch
"Unsere Bürger finden keine Arbeit, aber die Syrer arbeiten schwarz und eröffnen illegal Unternehmen. Das macht die Leute hier sauer," erklärt Mr. Secer. Auch er beschwert sich über kulturelle Verschiedenheiten. "Als Gesellschaft sind wir sehr viel moderner und zeitgenössischer", meint er. Die CHP sieht sich selbst als eine sozialdemokratische Partei. Gelegentlich erinnert ihre Rhetorik jedoch an die Sprache der extremen Rechten.
In Mersin und anderswo ist es den Behörden größtenteils gelungen, die Spannungen zwischen Türken und Syrern unter Kontrolle zu halten. Gewaltausbrüche zwischen den Gruppen bleiben ausgesprochen rar.
Experten jedoch warnen, die türkische Flüchtlingspolitik sei inzwischen kaum mehr nachhaltig. Die Erdogan-Regierung gibt an, seit 2011 mehr als 37 Milliarden US-Dollar für die Verpflegung, Unterbringung und Gesundheitsvorsorge der Flüchtlinge ausgegeben zu haben. Diese Summe mag zwar stark übertrieben sein – es lässt sich jedoch kaum abstreiten, dass die Türkei mehr für Syrer auf der Flucht getan hat, als jedes andere Land in Europa.
Europa wird mehr finanzielle Mittel in Integration in der Türkei investieren müssen
Nun sollte es ihnen auch formell den Flüchtlingsstatus einräumen, genau wie auch das Recht auf Arbeit und das Aufenthaltsrecht, meint Metin Corabatir, Vorsitzender des Research Centre on Asylum and Migration. Jetzt, da sich ein längerer wirtschaftlicher Abschwung abzeichnet, wird die Türkei zudem die Hilfe von außenstehenden Ländern benötigen.
Die EU zahlt der Türkei bereits heute viele Milliarden US-Dollar, um die Flüchtlinge von ihren eigenen Küsten fern zu halten. In der Zukunft, sagt Corabatir, werden die Europäer auch mehr Geld in Integrationsprojekte und politische PR-Programme in der Türkei investieren müssen.
Erdogans Regierung klammert sich bisher noch an ihr Versprechen, die Syrer würden irgendwann aus freien Stücken wieder nach Hause zurückkehren. Studien legen jedoch nahe, dass die Mehrheit der Flüchtlinge dies nicht beabsichtigt. Weigern tut sich unter andern auch Firas Fanari, ein ehemaliger Anwalt, der vor fünf Jahren aus seiner Heimatstadt Aleppo floh, nachdem syrische Regierungstruppen angefangen hatten, seine Nachbarschaft zu bombardieren.
"Als ein betrunkener Soldat an einem Checkpoint versuchte, meine Tochter zu entführen, war es das für mich mit Syrien", erinnert er sich bei Kaffee, Zigaretten und Plätzchen in seiner Wohnung in Mersin. Seine Tochter studiert heute an der Universität der Stadt und hofft darauf, danach einen MBA-Studiengang in Istanbul absolvieren zu können. Fanaris Ehefrau möchte eine Konditorei eröffnen. Sein Sohn im Teenageralter spricht Türkisch besser als Arabisch. "Wir sind jetzt Türken", meint Fanari. "Nur ohne die richtigen Papiere."
Im Video:
Ex-Ministerpräsident stellt sich offen gegen Erdogan
Dieser Artikel erschien in der Europa-Rubrik der neuen Printausgabe des The Economist unter der Überschrift "A long way from home" und wurde von Lukas Wahden aus dem Englischen übersetzt.
*Der Beitrag "Die Arbeitslosigkeit in der Türkei steigt – damit auch die Wut auf geflüchtete Syrer" stammt von The Economist. Es gibt keine redaktionelle Prüfung durch FOCUS Online. Kontakt zum Verantwortlichen hier.
No comments:
Post a Comment