Nach dem Tod des Altkanzlers bahnt sich Streit um seinen politischen Nachlass an. Die Witwe beansprucht die Deutungshoheit über Kohls Leben, Historiker fordern freien Zugang zu allen Quellen. Die Kanzlerin will den Bruch mit dem Patriarchen unbedingt verbergen.
Als Helmut Kohl am Freitag vergangener Woche die Augen für immer schloss, war bereits alles vorbereitet. Gemeinsam mit seiner zweiten Ehefrau Maike Kohl-Richter hatte der Altkanzler Art und Ort der Trauerfeier bestimmt, die Liste der Gäste und Redner festgelegt und Einzelheiten für die Zeremonie des Trauerzugs bestimmt. Auch seine letzte Ruhestätte steht fest.
Der Kanzler der Einheit wird nicht in Ludwigshafen-Friesenheim im Familiengrab der Kohls neben seiner ersten Frau Hannelore und seinen Eltern beerdigt, sondern im Adenauer-Park in Speyer. Das ist eine der vielen Entscheidungen Kohls, die seine Söhne Walter, 53, und Peter, 51, aufs Tiefste bedauern. Walters Versuch, mit zwei Kohl-Enkeln am Mittwoch noch einmal in das Elternhaus in Oggersheim zu gelangen, scheiterte. Auch am aufgebahrten Sarg im Esszimmer der Kohl-Villa gibt es keine Versöhnung.
Was passiert mit Kohls Unterlagen und seinem historischen Erbe?
Neben familiären Unstimmigkeiten hat der Letzte Wille des Altkanzlers aber auch politisch ein Beben ausgelöst, dessen Auswirkungen bis nach Berlin reichen. Nicht nur die ungewöhnlichen Modalitäten der Trauerfeier und deren selektive Kommunikation sorgten für Kopfschütteln der Bundesregierung, dem Schloss Bellevue und der CDU-Führung. Auch die offene Frage, wie künftig mit Kohls Unterlagen und seinem historischen Erbe umgegangen werden soll, steckt voller Brisanz.
Historiker fordern freien Zugang zu allen Akten und Quellen in Kohls Privathaus in Oggersheim, während seine Witwe die Federführung und damit die Deutungshoheit beansprucht. Nicht zuletzt sind aus dem Kanzleramt in Bonn nach Kohls Wahlniederlage 1998 zahlreiche Akten bis heute verschwunden. Auch hier erhoffen sich Archivare und Historiker Aufklärung.
Europäischer Staatsakt: Kohl hätte Ablauf seiner Beisetzung nicht anderen überlassen
Das Tauziehen zwischen Oggersheim und Berlin begann vergangenen Samstag mit einer Initiative des EU-Kommissionspräsidenten. Jean-Claude Juncker meldete sich unmittelbar nach der Todesnachricht mit dem Vorschlag, dass es für Kohl keine nationale Trauerfeier nach deutschem Protokoll geben solle, sondern vielmehr einen „europäischen Staatsakt“.
Weil Juncker zeitlebens ein enger Freund Kohls war, verstanden in Berlin alle sofort, dass der Altkanzler da vor seinem Ableben noch persönlich Regie geführt hatte. Kohl war viel zu sehr Historiker und Staatsmann, als dass er den Ablauf seiner Beisetzung anderen überlassen hätte. Schon gar nicht dem Protokoll von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der gemeinsam mit dem Bundesinnenministerium eigentlich für einen nationalen Staatsakt zuständig gewesen wäre.
Der Altkanzler wollte späte Rache üben
Weil der Bundespräsident ausdrücklich nicht auf der Rednerliste stand, die Kohls Witwe vergangenen Sonntag an Angela Merkel persönlich durchgab, verdichtet sich der Eindruck, dass der Altkanzler späte Rache üben wollte. Der Verdacht wurde zur Gewissheit, als Maike Kohl-Richter einen weiteren Wunsch ihres verstorbenen Mannes übermittelte: Demnach sollten auf Kohls Trauerfeier nur ausländische Politiker sprechen, unter anderem der ungarische Ministerpräsident Victor Orbán.
Eine Rede der Kanzlerin war zunächst nicht vorgesehen, was Stephan Holthoff-Pförtner, Kohls langjähriger Anwalt, aber bestreitet. Dennoch musste Merkel schon alleine die Auswahl Orbáns als Affront verstehen. Offener konnte der Bruch zwischen ihr und Kohl nicht zutage treten. Orbán, dem die EU die Verletzung demokratischer Regeln und einen autoritären Regierungsstil vorwirft, gilt als erbittertster Gegner der Flüchtlingspolitik Angela Merkels. Kohl hatte den Ungarn hingegen wiederholt in seinem Haus in Oggersheim empfangen.
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Orbán als Trauerredner konnte Merkel nicht akzeptieren
Merkel lehnte den Vorschlag der Witwe prompt ab. Die Kanzlerin hatte bereits dem ausdrücklichen Wunsch Kohl-Richters entsprochen, persönlich mit ihr über die Trauerfeier sprechen zu wollen. Aber Orbán als Trauerredner konnte Merkel nicht akzeptieren, auch wenn sie mit Blick auf den Bundestagswahlkampf und die vielen Kohl-Verehrer in ihrer Partei alles unternehmen muss, um einen Eklat zu vermeiden und den Riss im Verhältnis zu Kohl zu verbergen.
Nach der Intervention von Vertrauten verzichtete Kohl-Richter schließlich auf Orbán als Redner und erklärte sich auch mit einer Rede Merkels einverstanden. Nun soll es am 1. Juli eine Trauerfeier im EU-Parlament in Straßburg geben. Sprechen sollen neben Parlamentspräsident Antonio Tajani und Angela Merkel noch Jean-Claude Juncker, der französische Staatspräsident Emmanuel Macron, der frühere US-Präsident Bill Clinton und der ehemalige spanische Ministerpräsident Felipe González.
Im Anschluss an die Trauerfeier in Straßburg sollen die Witwe und Kohls Sarg erst mit dem Hubschrauber und dann per Schiff auf dem Rhein nach Speyer gebracht werden, wo im Dom ein Requiem für den Verstorbenen gehalten wird.
Drei Autos voll mit Akten und Hunderttausende Blatt Papier fehlen
So kompliziert das protokollarische Prozedere um Kohls Beerdigung auch war: Wesentlich delikater ist die Frage, welche Unterlagen eigentlich in Kohls Haus lagern und wie damit künftig umgegangen wird.
Kohls Fahrer Ecki Seeber hatte 1998 nach der Wahlniederlage gegen Gerhard Schröder drei Autos voll mit Akten aus dem Bonner Kanzleramt zunächst nach Mainz zur Landesgeschäftsstelle der CDU Rheinland-Pfalz gebracht. Danach verliert sich ihre Spur. Niemand weiß, wo sich die Unterlagen heute befinden. Gleiches gilt für ein Gigabyte elektronisch gespeicherter Akten, die laut dem Abschlussbericht des Sonderermittlers Burkhard Hirsch aus dem Jahr 2000 spurlos verschwunden sind – insgesamt rund 400.000 Blatt Papier.
Herausgekommen war der Aktenschwund im Kanzleramt damals erst, als der Untersuchungsausschuss zur CDU-Parteispendenaffäre die Unterlagen anforderte. Kohl sprach zu der Zeit erbost von einer „breit angelegten parteipolitisch motivierten Verleumdungsaktion“. Die Staatsanwälte kamen schließlich zu dem Ergebnis, dass eine geplante Spurenverwischung nicht zweifelsfrei zu belegen sei.
Kohl hat das Geheimnis, wer seine anonymen Spender waren, mit ins Grab genommen
Tatsache ist aber bis heute, dass die entsprechende Festplatte verschwunden ist und es entgegen amtlicher Praxis weder Sicherungsbänder noch Löschungsverzeichnisse gab. Nicht zuletzt hatte Kohls Kanzleramtsminister Friedrich Bohl zugegeben, sechs Aktenordner mitgenommen zu haben. Nicht mehr auffindbar sind außerdem Schriftwechsel zwischen Kohl und seinen Kabinettsmitgliedern aus der Zeit des Mauerfalls und der Einheit 1989/1990.
Große Aktenlücken gibt es ferner rund um den Milliardenkredit an die DDR 1983. Und noch eine brennende Frage ist unbeantwortet: Kohl hat das Geheimnis, wer seine anonymen Spender waren, mit ins Grab genommen. Der größte Teil der Unterlagen, die in Oggersheim lagern, sind nach Einschätzung von Besuchern Akten, die Kohl für das Verfassen seiner Biografie von der Konrad-Adenauer-Stiftung „ausgeliehen“ hatte, wie im Kohl-Umfeld betont wird. Sie sollen zurückgegeben werden.
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"Über amtliche Unterlagen hat eine Ehefrau überhaupt nichts zu sagen"
Nach Ansicht von Tobias Herrmann vom Bundesarchiv in Koblenz muss bei der Aufarbeitung zwischen privaten und amtlichen Papieren unterschieden werden, „auch wenn das bei einem Politiker wie Helmut Kohl nicht so einfach ist, weil sich da Amt und Privates hin und wieder vermischen können“.
Klar sei aber, dass Akten aus dem Bundeskanzleramt öffentliches Eigentum seien und „dem Bundesarchiv angeboten werden müssen“, betont Herrmann. „Über amtliche Unterlagen hat eine Ehefrau oder welche Verwandte auch immer überhaupt nichts zu sagen.“
Auch für Horst Möller, den früheren Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München, ist klar, dass Kohl „natürlich der Öffentlichkeit gehört“. Möller hatte für eine Franz-Josef-Strauß-Biografie intensiv in Kohls umfangreichen Aktenbestand in Oggersheim recherchieren dürfen.
Was wird aus den Hunderten Stunden Tonmaterial, auf dem Kohl über Parteifreunde herzieht?
In dem privaten Konvolut, das die Historiker brennend interessiert, lagert noch ein ganz besonderes Material, das praktisch kaum jemand kennt: jene Tonbänder, die der Journalist Heribert Schwan von seinen langen Gesprächen mit Kohl im Keller des Ludwigshafener Hauses aufgenommen hatte.
Schwan war Kohl bei der Abfassung seiner Memoiren zur Hand gegangen, einen Teil der Bänder benutzte er allerdings ohne Genehmigung des Ex-Kanzlers für ein eigenes indiskretes Buch. Das Landgericht Köln verurteilte Schwan deshalb zu einem Schadensersatz von einer Million Euro.
Die Frage bleibt: Was wird aus den Hunderten Stunden Tonmaterial, auf dem Kohl teils deftig über Parteifreunde herzieht? „Das sind authentische, ausgesprochen wichtige Dokumente“, glaubt Eckart Conze, Historiker an der Uni Marburg. „Sie sind ein integraler Teil des Kohl-Nachlasses. Sie sollten unbedingt gesichert werden.“
Juristische Konstruktion könnte Lösung sein
Conze sieht in der Kontrolle durch Kohls Witwe ein wesentliches Problem für die Forschung zum Kohl-Lebenswerk. Um selektives Aktenstudium, vorsortierte Papiere und ein generelles Gezerre zwischen Kohl-Richter und den interessierten Forschern zu verhindern, schlagen Historiker wie Politiker eine Konstruktion vor, die schon bei der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung und der Helmut-Schmidt-Stiftung gewählt wurde.
„Im Fall der Brandt-Stiftung hat man klugerweise die Witwe Brigitte Seebacher-Brandt mit in das Gremium einbezogen“, so Conze. „Das hat die Wege zur Auswertung der Unterlagen geöffnet.“ An den Entscheidungen der Schmidt-Stiftung ist die Tochter des großen Hamburgers beteiligt. „Eine solche Lösung“, findet Conze, „kann ich mir gut für den Nachlass von Kohl vorstellen.“ Auch Bernhard Vogel, Kohl-Vertrauter und langjähriger Chef der Adenauer-Stiftung, plädiert ebenso wie Staatsministerin Monika Grütters (CDU) für die Stiftungslösung.
Doch egal, wie die juristische Konstruktion ausfällt – entscheidend ist die Frage, ob es vollen und ungehinderten Zugang zu sämtlichen Unterlagen in Oggersheim gibt. „Frau Kohl-Richter vertritt die Auffassung, dass der Nachlass in die Hände von Historikern gehört“, sagt ihr Anwalt Holthoff-Pförtner. „Das wird von ihr nicht in Frage gestellt. Wie dieser Prozess genau gestaltet wird, kann ich noch nicht sagen.“
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