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Saturday, September 30, 2017

16 Reporter, 16 Bundesländer - Bremen - "Das ist keiner aus dem Volk": Bremer kennen die Gründe für die SPD-Schmelze im Norden

16 Reporter, 16 Bundesländer - Bremen: "Das ist keiner aus dem Volk": Bremer kennen die Gründe für die SPD-Schmelze im Norden
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Nur dämmriges Licht fällt durch die Scheiben einer Kneipe direkt neben einem Einkaufszentrum in Bremen-Vahr. Obwohl sich die Sonne endlich durch die trübe Wolkendecke gekämpft und die 60er-Jahre-Bauten um die Gaststätte von ihrem grauen Schleier befreit hat, ist die Theke am Nachmittag bereits voll besetzt.

Die Vahr galt einst als Vorzeigeprojekt für urbanes Leben, dann als sozialer Brennpunkt. Heute wohnen viele Ausländer, junge Familien und Arbeiter in dem Stadtteil.

„Ich komme aus einer Arbeiterfamilie, da wählt man eigentlich die SPD“, sagt die 60-jährige Sylvia und nimmt einen tiefen Schluck aus ihrem Bierglas. Die blonde Frau mit der weichen, warmen Stimme arbeitet in der Kneipe. Eigentlich hat sie schon längst Feierabend, doch die Stammgäste haben sie noch zu einem letzten Bier überredet. „Der Schulz ist aber nicht der richtige Mann, das ist keiner aus dem Volk.“ Sie hat sich zum ersten Mal für die FDP entschieden, um frischen Wind in die Regierung zu bringen.

„Es herrscht doch Stillstand in der Regierung, wir brauchen Menschen mit Charisma und Visionen“, fügt Christian zwischen zwei Zügen aus seiner Zigarette hinzu. Der 53-Jährige ist Buchhändler, arbeitet zurzeit als Aushilfe – immer da, wo man ihn braucht. Er hat sich schwer getan mit dem Wählen. „Ich bin dann nach dem Ausschlussverfahren vorgegangen, da blieb nur noch die Linke übrig.“

Einen Platz weiter schüttelt Siegbert nur verständnislos den Kopf und murmelt in seinen grauen, buschigen Vollbart. Der 56-jährige Gerüstbauer hat die CDU gewählt – weil er das schon immer so gemacht hat. „Ich komme aus der DDR, da erinnern mich die Linken und die SPD zu sehr an die SED. Denen kann man doch nicht vertrauen.“

Deutschland deine Gesellschaft – 16 Reporter, 16 Bundesländer

Die Bundestagswahl hat gezeigt, dass ein Riss durch Deutschland geht. FOCUS Online nimmt das Wahlergebnis zum Anlass, mehr über Deutschland und die Deutschen zu lernen: Was waren ihre persönlichen Gründe für ihre Wahlentscheidung? Wo sehen sie Probleme, was sind ihre Wünsche und Hoffnungen? Um Antworten darauf zu finden, reisen 16 FOCUS-Online-Reporter eine Woche lang in die 16 Bundesländer.

Alle bereits veröffentlichten Geschichten finden Sie verlinkt am Ende dieses Beitrags.

„Die Regierung hat die Menschen vergessen“

In der Östlichen Vorstadt sehen das viele Menschen anders: Mit 22,25 Prozent erreichte die Linke in dem Szene-Viertel ihren höchsten Wert. Die engen Straßen im „Viertel“ sind gesäumt von schmalen Altbremer Häusern. Bars, Geschäfte und Cafés zwängen sich dicht nebeneinander. Im Vorgarten eines weißen Hauses mit einem Tattoo-Studio schneidet eine ältere Frau die Pflanzen.

„Uns in Bremen geht es gut, aber die Regierung hat die Menschen vergessen“, sagt die 64-jährige Kristina. „Die Politiker wissen doch gar nicht mehr, was in der Straßenbahn so los ist.“ Sie würden die gesellschaftliche Ungleichheit und wachsende Armut nicht sehen. Neben der Bildung und dem Niedriglohnsektor würde das vor allem die Rentner betreffen. Obwohl sie Jahre lang gearbeitet und zwei Kinder großgezogen hat, bekommt sie nur 800 Euro Rente. „Ich habe glücklicherweise ein wenig geerbt, daher geht es mir sehr gut. Aber andere Frauen haben nicht das Glück und müssen mit einer so kleinen Rente auskommen - das geht doch nicht“, sagt sie mit lauter Stimme. Ihr ganzer Körper richtet sich vor Aufregung auf.

Die Regierung habe es versäumt, den Menschen ihre Ängste vor der Armut zu nehmen. Daraus entstehe der Neid und der Hass – auch gegen Ausländer, der ihrer Meinung nach so viele Menschen von den großen Parteien zur AfD getrieben hätte. „Die Parteien müssen sich wieder auf ihre soziale Herkunft rückbesinnen und die christlichen Werte, für die sie stehen, umsetzen“, sagt sie. Sonst könne man ihnen nicht mehr vertrauen.

Im Video: "Wir wollen Veränderung": Parteiloser Bürgermeister sagt, warum er AfD wählte

Kein Vertrauen in die Regierung

Auch Angelika hat kaum noch Vertrauen. „Ich habe dieses Jahr das erste Mal seit 50 Jahren nicht gewählt“, sagt die 69-Jährige und fummelt nervös mit den Fingern an dem Brief, den sie gerade zur Post bringen will. „Die Politiker versprechen nur Dinge, die sie nicht einhalten können. Der Wahlkampf war verlogen.“

Die Menschen würden immer nur gesehen werden, wenn Wahlkampf ist, kritisiert die Rentnerin. „Ich habe einfach kein Vertrauen mehr in die Regierung.“ Die Politik müsse mehr auf den Menschen eingehen und die Politiker Zwischenmenschlichkeit vorleben. Dann könne sie sich auf vorstellen wieder zu wählen.

Die Wahlbeteiligung ist in Bremen im Gegensatz zu 2013 zwar um 3,4 Prozent gestiegen, liegt mit 72,2 Prozent jedoch unter der bundesweiten Wahlbeteiligung von 76,6 Prozent. Die SPD wurde trotz erheblicher Verluste mit 26,8 Prozent stärkste Partei. Die CDU kam hingegen nur auf 25 Prozent. Linke (13,5), AfD (10,0) und FDP (9,3) holten in Bremen deutlich mehr Stimmen als noch 2013. Die Grüne verlor hingegen 1,1 Prozent und kommt nur noch auf 11 Prozent.

Studiert, ausgebildet und arbeitslos

Auf einer feuchten Bank im Bremer Stadtteil Schwachhausen sitzt ein großer, junger Mann mit Cappy und liest ein Buch von Dan Brown. Dennis hat seine Mutter in ein Krankenhaus um die Ecke gebracht und wartet auf sie. Er ist SPD-Stammwähler.

„Die Wahlergebnisse sind nicht wirklich überraschend. Schulz hatte von vornherein keine Chance“, sagt der 35-Jährige. Die großen Parteien seien sich zu ähnlich geworden und Schulz habe kein Standing im Gegensatz zu Merkel gehabt. Trotzdem hat er die SPD gewählt. Sie stehen immer noch für soziale Gerechtigkeit, meint er.

„Die Politik muss jedoch mehr für den Arbeitsmarkt tun“, sagt der 35-Jährige mit lauter, fester Stimme und schiebt seine Brille nach oben. Dennis hat eine Ausbildung zum Industrie-Kaufmann, doch nachdem er immer nur Zeitarbeitsjobs hatte, entschied er sich noch mal zu studieren. Gebracht hat ihm das bisher wenig: „Ich räume zur Zeit Regale in einem Supermarkt ein. So versuche ich mein Leben zu finanzieren. Ich will dem Staat nicht auf der Tasche liegen, sondern für mich selbst sorgen.“ Fast 50 Bewerbungen hat er seit seinem Abschluss vor einem Jahr schon geschrieben.

Um Geld zu sparen, wohnt er noch zu Hause bei seinen Eltern im Burglesum, im Bremer Norden. „Das geht gar nicht. Ich bin ja schon 35 Jahre alt“, sagt Dennis. Er lehnt sich zurück und lacht kurz auf. „Doch bisher konnte ich mir das nicht leisten.“ Er sei zwar ein positiver Mensch, aber er habe gelernt nicht zu viel zu hoffen. Dennis reibt sich nachdenklich die Stirn unter der Cappy und sieht die Augenbrauen hoch. Plötzlich klingelt das Handy, seine Mutter ist fertig. „Ich habe morgen noch ein Vorstellungsgespräch. Wer weiß, was passiert“, sagt er lächelnd und steht auf. „Dabei kann mir keine Partei helfen.“

Alle Geschichten aus der Reihe "16 Reporter, 16 Bundesländer"

 

Im Video: "SPD hat versagt": Lübecker wählen nach 48 Jahren plötzlich CDU - aus guten Gründen

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