Der Parteivorsitzende hat es geschafft. Mit 10,6 Prozent zur Bundestagswahl, das zweibeste FDP-Ergebnis nach vier Jahren außerparlamentarischer Opposition.
Aber der 38-jährige Spitzenkandidat ist auch ein bisschen selber geschafft. Am Montagabend zog er sich in seine Berliner Wohnung im Prenzlauer Berg zurück. Nach einem langen Nachwahltag sortiert er seine digitalen Unterlagen, durchforstet noch mal das Netz nach neuesten Informationen.
Via iPhone und iPad hat er seinen Arbeitsalltag fast papier- und bürolos gestaltet. Er ist der Digiman der FDP: „Ich bin fast immer unterwegs – in der Bahn, im Auto und Flugzeug. Meine Büros in Düsseldorf und Berlin habe ich in der Woche zwei Stunden gesehen.“
Doch jetzt nach der Wahl sucht er Ruhe und Besinnung in den eigenen vier Wänden. Der Wahlkampf hat ihn geschlaucht. Dennoch meldet sich bei Lindner sein Mobiltelefon fast unaufhörlich. Gut 250 SMS beantwortet der Chef-Liberale abends noch, Glückwünsche und Ratschläge trudeln ein.
Hektisches Telefonieren über Jamaika gibt es eher nicht. Mit CDU-Chefin Merkel hat er telefoniert und kurz mit CSU-Spitzen wie Alexander Dobrindt gesprochen. Mit Horst Seehofer jedoch noch nicht. SMS-Kontakte gibt es zu den Grünen-Spitzen und auch das eine oder andere Gespräch. Sondierungen will die FDP allerdings zunächst mit der Union ab 8. Oktober sich vornehmen.
FDP, Grüne und Union – kann das gut gehen?
Besorgt beobachtet die FDP-Spitze den Kampf innerhalb der Grünen, wer an der Verhandlungskommission teilnehmen darf. Auch zwischen CDU und CSU eskaliert die Lage über die künftige Ausrichtung, erkennt die FDP-Führung. Kanzlerin Angela Merkel wolle weiter keine Fehler einsehen und CSU-Chef Seehofer offene Flanken nach rechts schließen. Wie soll das gut gehen?
Doch selbst Lindners Stellvertreter Wolfgang „Jamaika“ Kubicki will sich zum Insel-Bündnis im Bund nicht drängen lassen. Sein Rat: „In der Ruhe liegt die Kraft.“ Wenn es nach den Gesprächen nicht funktioniere, sei das dann erklärbar und die Menschen würden es verstehen.
Vorerst zeigt sich Lindners FDP „gesprächsfähig“. Dieses Wort lässt der Parteichef immer wieder fallen. Er will konstruktiv bleiben und kein Verweigerer sein. Nach vier Jahren vom Wähler erzwungener Bundestagspause wird die FDP „jetzt die Lücke in der Mitte wieder füllen“, verspricht Lindner. Egal ob Regieren oder Opponieren – mit dem Startup-Unternehmen FDP ist Wirtschaftspolitik im Bundestag jetzt wieder verfügbar.
Denn der bei seinem Antritt jüngste FDP-Chef der Geschichte hat mit 38 Jahren noch Zeit. Er kann sich in vier Jahren Opposition weiter profilieren und auch das Ende der Ära Merkel getrost abwarten.
Lindner duldet keine Querschüsse
Inzwischen hält der Fraktionschef die Zügel fest in Hand. Im beigen Anzug mit Einstecktuch, weißem Hemd und tiefblauer Krawatte eröffnete Lindner zwei Tage zuvor ganz allein auf dem Podium im Saal 1 des Hans-Dietrich-Genscher-Hauses die konstituierende Sitzung seiner Fraktion. Sein Stellvertreter Kubicki schlägt ihn zur Wahl des Vorsitzenden vor. Das Ergebnis ist einstimmig.
In der Debatte macht der Fraktionschef schnell klar, wie der Laden läuft. Kakophonie gibt’s nicht. Der Thüringer FDP-Chef und neue Bundestagsabgeordnete Thomas Kemmerich machte gleich so eine Erfahrung. Er warnte vor der Sitzung laut vor einer Regierung mit Merkel: „Wer sich mit dieser Bundeskanzlerin ins Bett legt, kommt darin um.“
Lindner forderte Kemmerich prompt auf, sich vor der Fraktion dazu zu erklären. Eine Meinung könne man ja haben, aber sie so jedenfalls nicht äußern. Die FDP-Führung will einen Konfrontationskurs vermeiden. Am Ende der Sitzung gab Lindner Neuling Kemmerich die Hand mit der Bemerkung, er müsse den Hinweis sportlich sehen. Viele Fraktionsmitglieder wissen jetzt: Querschüsse wird ihr Chef nicht dulden.
„Jamaika wird für uns eine Todesinsel“
Jamaika ist innerparteilich umstritten genug. Selbst FDP-Granden wittern im Regierungsbündnis mit Union und Grünen eine explosive Mischung – wenn nicht sogar eine Falle. Schließlich besteht die neue Bundestagsfraktion fast zu zwei Dritteln aus Neulingen. Lindners FDP-Frischlinge im Sandwich zwischen den ausgebufften Schwarzen und Grünen? „Bloß nicht Jamaika, das wird für uns eine Todesinsel“, warnt ein erfahrener Spitzenliberaler.
Obendrein stimmt am Ende die FDP-Basis per Mitgliederentscheid über Jamaika ab und diese Koalition ist hier kein absolutes Wunschobjekt. Auch für den FDP-Chef nicht.
Für die Oldie-Generation der Grünen hingegen ist es nach der Abwahl 2005 die letzte Gelegenheit, wieder Ministerposten zu ergattern. Obendrein sähen viele Medienvertreter ihre Lieblingspartei die Grünen gerne wieder in Regierungsverantwortung.
Vor allem kann Merkels CDU gut mit den Ökos. Kanzleramtsminister Peter Altmaier und Parteichef Cem Özdemir sind seit der schwarz-grünen Pizzaconnection in Bonn ganz dicke. Auch Finanzminister Schäuble schätzt Özdemir aus Zeiten der Öko-Steuerreform in den neunziger Jahren. Gesundheitsminister Hermann Gröhe pflegt christliche Bande mit Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt.
Lindner weiß das genau. Im FOCUS-Interview (09/09/2017) bekannte er: Für ein Jamaika-Bündnis fehle ihm jegliche „Fantasie“. Das war vor der Wahl, jetzt nach dem sich die SPD verweigert, weitet sich etwas der Blick. Doch die FDP lässt sich nicht in eine Regierung zwingen, heißt es in der FDP-Spitze unisono. Dennoch wird Lindner Sondierungen mit Schwarz und Grün machen – auf Augenhöhe mit der Kanzlerin. Zwei, drei Runden, zur Not muss der Ball auch noch mal in die Hälfte der SPD gespielt werden. Trotz aller Verweigerung der Sozialdemokraten.
Über Jamaika sprechen – ja, aber Regieren?
Zuvor wird jedoch über Jamaika gesprochen. „Die FDP ist selbstverständlich zur Übernahme von Verantwortung bereit“, signalisiert der Parteichef vorsichtig. Lindners FDP der Vernunft will gestalten, aber nicht um jeden Preis. Sie macht Trendwenden zur Regierungsbedingung.
Deutschland brauche bezahlbare Energie durch mehr Marktwirtschaft statt weitere Öko-Subventionen und Kohlestromausstieg; geordnete Zuwanderung statt grenzenloser Aufnahme und zu großer Nachsicht bei Integrationsdefiziten. Genauso wie Steuerentlastungen für die Mittelschicht. Lindner will ein handlungsfähiges Europa statt eine Transfer-Union mit deutschem Geld. Und ein viertes Milliardenpaket für Griechenland gibt es auch nicht.
Wenn es für die FDP nicht möglich sei, solche Trendwenden in Sondierungen oder Verhandlungen zu erreichen, „dann ist unsere Rolle Opposition“, stellt Lindner klar. Christian Lindner jedenfalls wird sein Landtagsmandat in Nordrhein-Westfalen aufgeben, sobald sich der Bundestag am 24. Oktober zum ersten Mal konstituiert hat. Bis dahin ist er nur gewählter Chef einer Bundestagsfraktion in Gründung. Lindner würde sagen, eines aufstrebenden Startup-Unternehmens.
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