Das Messer intoniert ein leises Flip-Flip. Doris Theel, 68, sitzt an ihrem kleinen Küchentisch und schnibbelt in ihrer Sozialwohnung in Bergheim nahe Köln gekonnt Apfelscheiben.
Bekannte haben ihr Obst geschenkt. „Fallobst“, sagt die Rentnerin und lächelt ein wenig verschämt, während ihre Hände unablässig die genießbaren Teile vom Rest trennen. Ohne die Hilfe von Freunden oder mildtätigen Organisationen käme die alleinstehende Seniorin nicht über die Runden.
Die mickrige Rente hat die Stadt auf exakt 768 Euro aufgestockt. Abzüglich Miete, Strom und Nebenkosten bleiben der geschiedenen Ruheständlerin nach einem arbeitsreichen Leben gerade einmal knapp 300 Euro im Monat. Altersarmut hält die Rheinländerin voll im Griff, gerade hat sie wieder mit neuen Rheumaschüben zu kämpfen. Eine neue Brille wäre von Nöten, aber woher das Geld nehmen?
Natürlich hat sie den Bundestagswahlkampf verfolgt, hat im Fernsehen gesehen, wie eine ihrer Leidensgenossinnen aus Bayern Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) die Leviten gelesen hat. Sie musste erleben, wie die Regierungschefin über die Vorzüge der Mütterrente schwadronierte. „Dass ich nicht lache“, zürnt Doris Theel, „bei mir wird die Mütterrente voll auf meine staatliche Grundsicherung angerechnet, da bekomme ich keinen Cent mehr“. Schlichtweg verarscht fühle man sich als bedürftige Rentnerin: „Vor den Wahlen versprechen die Parteien eine ganze Menge, und danach kommt es dann doch ganz anders“.
Deutschland deine Gesellschaft – 16 Reporter, 16 Bundesländer
Trotz aller Vorbehalte hat die Bergheimerin ihr Kreuz wie ehedem bei der Union gemacht. „Wissen Sie“, referiert Doris Theel, „es geht ja nicht nur um mich, sondern auch um die ganzen Halunken in der Welt wie Erdogan, Trump, Putin oder diesen nordkoreanischen Diktator, der die Atombomben zünden will.“ In die Weltpolitik bringe die Kanzlerin Ruhe rein, damit nie wieder Krieg entstehe. „Das ist doch das Wichtigste.“ Wichtiger als ein Einzelschicksal. „Deshalb also erneut die CDU.“ Sagt‘s und schnibbelt das Obst weiter zurecht.
Erdrutsch fürs Establishment
Die Republik hat gewählt, einen Erdrutsch fürs Establishment im Berliner Machtzentrum, ein Dilemma für alle regierungsstiftenden Gedankenspiele, den Absturz vieler Hoffnungen auf der politischen Bühne - zumindest, was die etablierten Parteien betrifft. Vom katastrophalen Rechtsruck ist die Rede, so als habe der Aufstieg der rechtspopulistischen AfD alle überrascht.
Aus dem einst vom Ausland als so stabil und regierungsfähig bewunderten Parteiengefüge im Bundestag ist eine fragile Gemengelage entstanden, die vor allem eines ausdrückt: die Wählerschaft in der Mitte Europas ist tiefer gespalten denn je. Und das trotz niedriger Arbeitslosenzahlen und famoser Wirtschaftsdaten.
Die Stimmung zwischen Rhein und Ruhr hängt im Keller
Diese Erkenntnis trifft vor allem auf Nordrhein-Westfalen zu: Tagelang reiste FOCUS Online durch etliche Metropolen und Regionen im bevölkerungsreichsten Bundesland, befragte Dutzende Wähler und stellte Erstaunliches fest: Unabhängig von linker oder rechter Couleur hängt die Stimmung zwischen Rhein und Ruhr überwiegend tief im Keller.
Martha (Name geändert), 48, genießt die Mittagspause in der Sonne im Kölner Agnesviertel. In dem gutsituierten Quartier mit seinen begehrten Altbauwohnungen kommen die Grünen stets auf zweistellige Prozentzahlen. „Schrecklich ist das mit der AfD“, klagt die Unternehmerin, die im Messebau ihr Geld verdient. Aber viele Leute seien einfach unzufrieden. „Ist ja auch kein Wunder“, führt die blonde Frau aus. Bei ihr im Job arbeiten viele für den Mindestlohn von 8.90 Euro. „Damit kannst Du in teuren Städten wie Köln nicht leben. Die Leute sind unzufrieden.“ Sie selbst hat wieder Grün gewählt, allerdings die Zweitstimme der Linkspartei gegeben. „Damit die den Grünen Zunder unterm Hintern machen.“
Martha würde sich wünschen, dass es gerechter in „Schland“ zuginge. Aber das genau war doch das Thema der SPD im Wahlkampf, wieso hat sie nicht Kanzlerherausforderer Martin Schulz ihre Stimme gegeben? „Ach“, winkt die Freiberuflerin ab, „die SPD sagt viel und hält wenig.“
Noch ein Aufstocker
Der Herbst zeigt sich von seiner besten Seite. Indianersommer. Nur ein paar Meter weiter sitzt Herbert Meier auf einem Blumenkasten und verfolgt die vorbeihastenden Menschen auf dem Bürgersteig im Schatten der Agneskirche. Die Arme tätowiert, das Baseballkäppi tief ins Gesicht gezogen, der Schnurrbart akkurat geschnitten, wirkt er wie ein Buddha im hektischen Treiben um ihn herum. Mitunter gönnt er sich aus seiner Pulle Bier einen Schluck.
Meier hat Zeit, er ist Rentner, statt Mittagspause kann er nun den ganzen Tag ausspannen. Nach 43 Jahren auf dem Bau lebt der Handwerker nun von weniger als 1000 Euro Rente - ein sogenannter „Aufstocker“, weil die Öffentliche Hand den 70-Jährigen bezuschussen muss.
Vergangenen Sonntag hat er „zur Feier des Tages eine Sektflasche geköpft“, als die erste Prognose um 18 Uhr der AfD ein zweistelliges Ergebnis voraussagte. Jahrzehntelang hat der Senior „die Sozen gewählt“. Enttäuscht von den Genossen hat er dieses Mal sein Kreuz bei den Rechtspopulisten gemacht. „Aus Protest, damit mal frischer Wind in den Bundestag reinkommt“, schnarrt der Ex-Bauarbeiter in heiserem Ton. Die Folgen einer Krebserkrankung an den Stimmbändern.
„Uns hat doch keiner gefragt“
Der knorrige Schnauzbart hat auch mal hier im schönen Agnesviertel gewohnt, aber jetzt als Rentner ist er zwei Kilometer weitergezogen. Da, wo es billiger ist. Unablässig schimpft Meier auf Merkel, auf deren Flüchtlingspolitik. Dass sie nun all die Terroristen ins Land geholt hätte. „Uns hat doch keiner gefragt, im Jahr 2015 die Grenzen zu öffnen.“ Meier zählt sich zu den Protestwählern, zu jenen Verlierern, die nun als klassische AfD-Stimmengeber gelten. Er will nicht verstehen, „warum ich finanziell nach 43 Jahren Maloche genauso gut dastehe, wie diese Leute, die hier reinkommen, keinen Cent Steuern einbezahlt haben, und der Staat wirft ihnen das Geld hinterher.“
Der Stammtisch lässt grüßen, aber ist es wirklich so einfach, die Vorbehalte solcher Wähler schlicht mit dem Nazi-Stempel zu versehen und nicht ernst zu nehmen?
Der SPD-Mann diagnostiziert ein „Grundunbehagen“
Der Bundestagsabgeordnete Ralf Kapschack (SPD), der seinen Wahlkreis Ennepe-Ruhr-Kreis wieder direkt geholt hat, spricht von einem „Grundunbehagen der Menschen“, das er im Wahlkampf immer wieder erlebt hat. Da war die vermögende ältere Dame in einem komfortablen Mietshaus, die nicht verstehen wollte, warum ihrem Enkel das Lehrgeld von der Waisenrente abgezogen wurde. Für jeden Flüchtling sei mehr übrig als für ihren Enkel, schimpfte die alte Frau. Natürlich hat Kapschack dagegen argumentiert, „aber es war schwer, diese Frau zu überzeugen“.
Ein weiterer Faktor macht den Genossen zu schaffen: „Die klassische Bindung zwischen Arbeitern und den Sozialdemokraten im Revier ist an vielen Stellen weggebrochen“. Im größten Ballungszentrum Deutschlands, der Metropolregion Rhein-Ruhr mit 15 Städten, rauchen die Schlote der Stahlwerke längst nicht mehr. „Es gab häufiger die Aussage, um uns kümmert sich kein Schwanz“, schildert Kapschack seine Wahlkampfeindrücke.
So manche Hochburg der großen Parteien erlebte schwere Einbrüche: Im rheinischen Neuss verlor die Union bei den Zweitstimmen bis zu zehn Prozent. Obwohl man beide Direktkandidaten durchbrachte, macht das Ergebnis den örtlichen CDU-Landtagsabgeordneten Jörg Egerlings nachdenklich: „Nach meiner Ansicht überwog im Wahlkampf der Wohlfühl-Kuschelkurs, ein Weiter So, anstatt auch auf Probleme der Menschen stärker einzugehen und Zukunftsthemen in den Mittelpunkt zu stellen.“
In den sozialen Brennpunkten erfährt die AfD großen Zuspruch
Auch in Neuss habe die AfD in sozialen Brennpunkten größeren Zuspruch erfahren. „Offensichtlich sind traditionelle Bindungen der Kirchen und Vereine vor Ort geschwunden.“ Trotz aller wirtschaftlichen Erfolge der Bundesregierung habe man „scheinbar Gruppierungen vergessen, denen es nicht so gut geht“, resümiert der Parlamentarier.
Zwar hat die CDU im Gegensatz zur Landtagswahl im Mai mit sieben Prozentpunkten Minus noch mehr Federn gelassen wie die SPD. Aber für die Genossen ist der Schwund umso schwerer zu verkraften, als sich viele Menschen gerade in ihrem Kerngebiet, dem Ruhrpott, von ihnen abgewendet haben.
Jeder fünfte Wahlberechtigte lebt im bevölkerungsreichsten Bundesland, in der einstigen Montanregion zwischen Dortmund und Oberhausen erzielten die Rechtsaußen allerdings beinahe überall zweistellige Resultate. Zwar landeten die Rechtspopulisten im NRW-Gesamtschnitt mit knapp zehn Prozent unter dem Bundestrend, die Herzkammer der SPD erodierte indes zu Gunsten der neuen Protestpartei.
Die Arbeiter wenden sich von der Arbeiterpartei ab
In prekären Vierteln im Essener Norden, Recklinghausen, Herne-Bochum kamen die Rechten auf bis zu knapp 17 Prozent. In Duisburg-Neumühl oder Obermarxloh avancierte die AfD mit bis zu 30 Prozent zur stärksten Kraft. Dagegen fuhr die SPD in ihrer Stammregion etwa bei den Zweitstimmen Verluste zwischen sieben und gut zehn Prozent ein. „Die Wähler in den Arbeiterstädten“, urteilte die Rheinische Post, „wenden sich von der Arbeiterpartei ab“.
Rainer Petters, 54, gehört zu den Gewinnern dieser Gesellschaft. Entspannt sitzt der Informatiker nach einer Radtour vergangenen Mittwoch draußen vor einem Café im Zentrum von Gelsenkirchen. Ja, er sei ein linker Wähler, gibt der Freiberufler zu, aber nein, mit den SPD-Genossen sei kein Staat zu machen. „Die stehen für nichts“, meint der Experte für IT-Technik. Also noch weiter links? Schweigen.
In Gelsenkirchen hat beinahe jeder fünfte Wähler für die Rechtspopulisten votiert. Das niederschmetternde Wahlergebnis sei folgerichtig, meint der Unternehmer, „weil man die Lage vieler Leute hier nicht verstanden hat“. Die Stadt sei ziemlich heruntergekommen, enorme Schulden drücken wie allerorten im Revier. „Es gibt viele soziale Brennpunkte, diese Viertel sind sich selbst überlassen worden.“
„Manche Leute suchen einen Sündenbock“
Petters weiß auch um die Probleme mit der Flüchtlingswelle, noch mehr Ärger machen allerdings die Armutseinwanderer vom Balkan, die vielen Alteingesessenen ein Dorn im Auge sind. „Manche Leute hier suchen sich einen Sündenbock: das sind dann die Flüchtlinge.“ Diesen Fehler kreidet Petters der Politik an, zuvorderst den seit Jahrzehnten regierenden Genossen im Rathaus. „Die haben die Leute nicht abgeholt.“
Dabei könnte sich der erfolgreiche Freischaffende entspannt zurücklehnen: Persönlich gehe es ihm wahrlich gut, bekennt der Vater von fünf Kindern. Er hat ein Zechenhaus gekauft, besitzt ein Auto, der Job läuft. „Und ich verdiene mehr Geld als ich brauche.“ Petters hätte ein Rezept für den Aufbruch in seiner Stadt parat: „Zunächst einmal muss der Solidarbeitrag an den Osten ins Ruhrgebiet umgelenkt werden.“ Es könne ja wohl nicht sein, dass die hiesigen notleidenden Städte Kredite aufnehmen müssten, um die neuen Bundesländer zu alimentieren.
Zweitens hat er auch nichts gegen Steuererhöhungen: „Kann ich mir leisten.“ Einzige Bedingung: „Es muss in unsere maroden Schulen und in die Bildung unserer Kinder investiert werden.“ Dabei denkt der Informatiker zum Beispiel an die Gesamtschule seiner Kinder, in der etwa die Toiletten wie eine Kloake stinken.
„Denen glaub ich kein Wort“
Hundert Meter weiter betrachten die drei Altenpflegerinnen Hannah, 54, Maria, 60 und Gertrud, 60 (Namen geändert) die Auslagen eines Schuhgeschäfts. Auf die Wahl angesprochen, reagieren sie mit unverhohlener Wut: „Alles Betrug, denen glaub ich kein Wort“, sind noch die harmloseren Aussprüche. Unter dem rotzigen Trotz zeichnet sich Frust und Furcht ab. Angst vor der Zukunft, Furcht vor dem Ungewissen.
Diese Frauen fühlen sich als Verlierer der postindustriellen Moderne. „Meine Tochter bekommt keinen Platz in der Kita für unser Enkelchen, aber das interessiert die da oben nicht“, platzt es aus Maria heraus. Von der flächendeckenden U3-Versorgung für Kleinkinder ist man wie allerorten in NRW auch in Gelsenkirchen weit entfernt.
Als Altenpflegerinnen gehören die Drei ebenso zu den Losern in Sachen Altersvorsorge. „Mein Mann war Arbeiter, hat eine kleine Rente, und ich werde auch nicht viel bekommen,“ klagt Gertrud. Darum geht‘s und nicht mehr. Kein Blick für die Weltlage, ob nun die Nordkoreaner wieder mit dem Nuklearschlag drohen oder die Briten mit ihrem Brexit-Plan oder ob es Kanzlerin Merkel gelingt, die Jamaika-Koalition zu schmieden.
Der „Rust-Belt“ im Ruhrpott fühlt sich abgehängt
Ähnlich wie in den darniederliegenden Montanstädten der USA, in denen US-Präsident Donald Trump reüssierte, fühlt sich der so genannte „Rust-Belt“ im Ruhrpott abgehängt. Längst haben Hanna, Maria und Gertrud das Vertrauen in die Stadtväter von Gelsenkirchen verloren. Deren Versagen projizieren sie gleich bundesweit auf den Politapparat.
Insbesondere fühlen sich die Frauen unsicher, „wenn es spät abends nach der Schicht in die U-Bahn geht“. All diese neuen Leute aus Rumänien und Bulgarien, die der Polizei zunehmend Probleme bereiten. „Das liest man doch täglich in der Zeitung oder hört vieles über Facebook“, wirft Hannah ein. Kriminelle Libanesen-Clans, Einbrecherbanden vom Balkan, eine zunehmende Gewaltkriminalität, die Angst vor neuen Terroranschlägen beunruhigen die drei Angestellten.
Nichts ist mehr, wie es war. Die alt bekannten Kulturmuster verschwinden in den Köpfen der einfachen Bürger und mit ihnen das Vertrauen in die Politik. Natürlich haben alle drei Frauen nach eigener Aussage gewählt, „aber am Ende ist doch eh nur Käse rausgekommen“, resümiert Hannah.
Demonstrierende Stahlarbeiter als Anachronismus
Thyssen Krupp in Duisburg. Klaus Wittig von der IG Metall hat wenig Zeit. „Da sind viele Streikmaßnahmen zu koordinieren.“ Einer der letzten großen Stahlkonzerne im Revier plant eine Fusion mit seinem indischen Konkurrenten Tata Steel. Der Zusammenschluss soll allein in Deutschland 2000 Arbeitsplätze kosten. „Die Stimmung ist verständlicherweise schlecht“, sagt Wittig. Vergangenen Freitag gingen 7500 Stahlkocher in Bochum auf die Straße. Es wirkte, wie ein Anachronismus aus der guten alten Zeit, als Stahl und Kohle der wichtigste Industriefaktor im Land waren.
Natürlich hoffe man auf die Hilfe der neuen schwarz-gelben Landesregierung, erläutert Wittig. Bisher aber hielt sich diese in Grenzen. Auch gab es verbale Schützenhilfe aus Berlin. Noch als SPD-Arbeitsministerin hatte Andrea Nahles der Belegschaft ihre Unterstützung zugesagt. Viel geholfen hat der Zuspruch bisher nicht.
Bundesland mit der höchsten Metropolen-Dichte
In keinem anderen Bundesland ist die Metropolen-Dichte größer als zwischen Rhein und Weser. In vielen Städten herrschen enorme soziale Unterschiede. Entsprechend fielen die Ergebnisse aus. Im meist gut bürgerlichen Bonn kamen die Rechten weit unter dem Bundeschnitt ins Ziel, dasselbe galt für die eher katholisch geprägten Regionen im Münsterland, am Niederrhein oder dem Oldenburger Münsterland. In sozialen Brennpunkten wie den Kölner Stadtteilen Chorweiler oder Finkenberg hingegen lagen die AfDler mit 17 Prozent über der Bundesquote.
Dagegen wählten in der begüterten CDU-Hochburg Lindenthal gerade mal vier Prozent rechtsaußen, insgesamt blieb die Partei in der viertgrößten Kapitale Deutschlands mit knapp sieben Prozent weit hinter ihren Erwartungen zurück. Da half auch nicht das stete Erinnern an die Massenangriffe auf Frauen durch überwiegend arabische Migranten an Silvester 2015 am Dom und Hauptbahnhof.
Johannes Becker, 68, Unternehmer, Kunstmäzen und Ur-Kölner, sitzt beim Lunch gemütlich in einem italienischen Lokal in der City. Der Mitgesellschafter der renommierten Brauerei Gaffel-Kölsch und Eigner des größten europäischen Kohlensäureherstellers CARBO kann die Aufregung über das Bundestagsvotum nicht verstehen: „Das ist doch eigentlich ganz gut gelaufen.“ Für den Millionär hat die Bildung einer Jamaika-Konstellation in Berlin durchaus ihren Reiz: „Die wirtschaftlich eigentlich ganz vernünftige CDU mit Kanzlerin Merkel, ergänzt mit liberalem und grünem Gedankengut, kann doch nur gut sein“, meint der Firmenchef.
Ein widersprüchliches Bundesland
Auch hier ist das Bundesland NRW so widersprüchlich wie seine nach dem Kriege zusammen geschusterten Teile: Anders als im prosperierenden Rheinland spielen solche Gedankenspiele an der Ruhr eine untergeordnete Rolle. Die einst im Revier so mächtigen Sozialdemokraten suchen sich selbst und eine neue Stammklientel. Die Union spielt in diesen Städten immer noch allzu oft die zweite oder dritte Geige, die liberalen Jagdgründe liegen anderswo. Ähnliches gilt auch für die Grünen, einzig die Linkspartei hat den Rechtspopulisten der AfD nun vollmundig den Kampf angesagt - wie genau dies gelingen soll, sei dahingestellt.
Erinnert das Ruhrgebiet doch eher an einen Patienten, der dringend eine auffrischende Bluttransfusion benötigt. Den meisten Rathäusern fehlt schlicht das Geld, um die Schere zwischen Arm und Reich in ihren Städten ein wenig zu verkleinern, geschweige denn zu schließen.
Reil wechselte von SPD zur AfD – und holte aus dem Stand knapp 23 Prozent
Beispiel Essen. Im Norden leben vorwiegend die Abgehängten der Stadt, im Süden die Besserverdiener. Guido Reil, politisches Enfant Terrible, führt durch seinen Wahlbezirk Essen-Karnap. Der 47 Jahre alte Bergmann machte von sich reden, als er aus Protest über die sozialen Missstände in der einstigen Zechenmetropole seine Funktionen bei der SPD niederlegte und zur AfD wechselte. Aus dem Stand holte er bei der Bundestagswahl knapp 23 Prozent der Stimmen. Mangels Listenplatzes steht er nun ohne Mandat da, will aber für den Bundesvorstand kandidieren.
Seine Rhetorik ist nicht mit jener rechtsextremer Scharfmacher wie Alexander Gauland zu vergleichen. Reil gibt den sozialen Kümmerer, der den Niedergang der Viertel in seiner Heimatstadt anprangert. „Ich bin kein Nazi“, beteuert der AfD-Politiker. „Aber man muss doch noch sagen dürfen, wenn etwas total schiefläuft.“ So sei der nötige Strukturwandel hier wie auch in zahlreichen anderen Städten der Region völlig verschlafen worden. „Der Ruhrpott ist zum Armenhaus der Republik verkommen“, schimpft der Politiker.
Reil redet ohne Unterlass, dabei helfen seine Arme mit. „Schauen sie sich die Hauptstraße an, viele Geschäfte haben einfach zugemacht“, weist er auf die Karnaper Straße. Eine Döner-Bude, ein Friseurladen, ein REWE-Markt, vor dem drei alte Herren sitzen und auf türkisch schwatzen – viel mehr ist nicht. Von ursprünglich 30 Kneipen existiert nur noch eine. Im maroden Bürgerhaus, dem einstigen Speise- und Vereinslokal der Orts-SPD, rühren nun ausländische Bauarbeiter Zement an. Das große Haus haben Rumänen gekauft, um Wohnungen zu schaffen und diese gewinnbringend zu vermieten. „An Armutseinwanderer vom Balkan oder Flüchtlinge“, glaubt Reil.
Abzocker machen mit der Not von Migranten Kasse
Im einstigen Malocher-Quartier Karnap, in dem viele schmucke, kleine Zechenhäuser die Nebenstraßen säumen, sind Immobilien für einen Spottpreis zu haben. Die Miete pro Quadratmeter liegt im Schnitt bei gerade mal fünf Euro. Ein Umstand, der viele Geschäftemacher auf den Plan gerufen hat, die mit der Not von Migranten Kasse machen wollen. Gut jeder dritte Bewohner ist hier Ausländer - Tendenz steigend.
An der benachbarten Grundschule warten vollverschleierte Frauen, um ihren Nachwuchs abzuholen. Während der Essener Süden hervorragend mit Kinderärzten versorgt ist, „sterben hier die letzten Mediziner aus“, behauptet der rechte Politiker. Am Schluss seiner Tour steht Reil auf dem vermüllten Karnaper Marktplatz. Er zeigt auf ein großes Mietshaus. „Gehört einem der Libanesen-Clans, bitte kein Foto, sonst stehen hier nach wenigen Minuten hundert Mann und machen Ärger.“ Panikmache oder nicht. Das Foto fällt flach.
Die Meinungsnachlese in NRW beschließt ein Vertreter aus dem Stamm der Nichtwähler: „Kleefisch“ steht über dem Eingang zur alteingesessenen Weinhandlung des Schweizer Staatsbürgers René Zweiacker. Man sollte nicht meinen, dass an diesem Fleck das Geschäft mit dem Alkohol florieren könnte. Draußen auf dem Wilhelmsplatz im Kölner Stadtteil haben türkische Händler das tägliche Marktgeschehen fest im Griff. An fast jeder Ecke bieten türkische Lokale ihre Spezialitäten an - hier wird Tee statt Wein serviert.
Zweiacker, der das Geschäft vor zwei Jahren von seinem damaligen Chef übernahm, trägt häufig ein verschmitztes Lächeln auf den Lippen. So als wollte er zum nächsten Gag ansetzen. „Mir geht‘s eigentlich richtig gut“, sagt der Weinhändler und grinst sein fragendes Gegenüber offen an. Sein Blick verrät keine Spur von Ironie oder dem Versuch den anderen zu veräppeln. Zweiacker meint es ernst.
„Die Deutschen klagen zu viel“, sagt der Schweizer Weinhändler in Köln
Sicher habe er sich Gedanken gemacht über das Warum und Wie der Bundestagswahl. Zu einem abschließenden Fazit sei er bisher nicht gekommen. „Das liegt vielleicht auch daran, dass meiner Meinung nach die Deutschen einfach zu viel klagen, immer ist das Glas halbleer, anstatt halbvoll“, lässt der Geschäftsmann seinem Gedankengang freien Lauf.
Bei ihm ist es anders. Persönlich laufe es gerade echt toll für ihn, erzählt der Vater von zwei Kindern. Die Übernahme des Weinhandels sei sicher ein Risiko gewesen, und dass er nun so viel Gewerbesteuer zahlen müsse, „ist nicht nachvollziehbar, aber alles in allem habe ich großes Glück gehabt“. Stetig habe sich seine Kundschaft erweitert. Nur einen Kilometer entfernt sind hunderte neue Eigentumswohnungen auf einem ehemaligen Werksgelände entstanden. Und wer sich 90 Quadratmeter für über 600.000 Euro leisten kann, gönnt sich auch gerne mal eine oder zwei Flaschen Wein.
Zweiacker doziert nicht auf Schwyzerdütsch, sein rheinischer Dialekt ist unüberhörbar. Das liegt daran, dass er schon in der Domstadt zur Welt gekommen ist. Wieso dann der Schweizer Pass? „Ganz einfach, vor Generationen wanderte meine Familie aus der Schweiz nach Köln aus“, erklärt der Kaufmann. Die eidgenössische Staatsangehörigkeit habe man aus alter Verbundenheit behalten. „Vor jeder Wahl hier denke ich, man müsste doch endlich mal einen deutschen Pass beantragen und mitstimmen“, führt der kölsche Schweizer aus und griemelt dann: „Aber dann lass ich es wieder sein, warum kann ich nicht genau sagen.“
No comments:
Post a Comment