Über die politische Kultur in den USA sagen die Vorgänge um die Veröffentlichung der Kennedy-Unterlagen viel aus. Das wird bei einem Gedankenspiel deutlich. Man stelle sich nämlich einmal vor, ein Präsident der frühen Bundesrepublik wäre erschossen worden. Sein Amtsnachfolger hätte eine Kommission unter Vorsitz eines geachteten Richters eingesetzt.
Und diese Kommission wäre zu dem einhelligen Ergebnis gekommen, dass der Täter gefasst worden sei und als Einzeltäter gehandelt habe. Wie viele Menschen in Deutschland hätten das wohl geglaubt?
Misstrauische Amerikaner
Man kann das nicht genau sagen, aber ich bin sicher, deutlich mehr als in den USA. Denn genau so war es nach der Ermordung von John F. Kennedy. Lee Harvey Oswald wurde als Einzeltäter identifiziert, doch konnte man ihn nicht lange befragen, denn zwei Tage später wurde er auf einer Polizeistation erschossen. In den Jahren von 1963 bis 1965 glaubte in den USA zwischen 29 und 36 Prozent der Bevölkerung diese Version.
Das heißt: Von Beginn an misstraute die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger der Version der Regierungskommission über Kennedys Ermordung. Die Zahl stieg sogar noch an und erreichte 1976 und 2001 mit 81 Prozent ihren Höchststand. Nur etwas über 10 Prozent glaubten der Regierungskommission. Bei der letzten Befragung 2013 waren immer noch zwei Drittel überzeugt, dass es um Kennedys Ermordung eine Verschwörung gab. Jeweils 13 Prozent hielten die US-Regierung selbst oder die Mafia für den Drahtzieher der Gewalttat.
Kollektives Trauma
Eine ganze Generation in den USA konnte sich stets erinnern, was sie am 22. November 1963 tat. Das war der Tag, an dem Präsident Kennedy in Dallas ermordet wurde. Es war ein kollektiver Trauma-Tag. Mit Kennedy sollte ein politischer und sozialer Aufbruch gelingen, doch nach seinem Tod fehlte die Symbolfigur dafür.
Sein Nachfolger, Lyndon B. Johnson, schon vom Auftreten her das Gegenteil des jungen fotogenen Präsidenten, brachte zwar tiefreichende Reformen durch den Kongress, brannte sich in das kollektive Gedächtnis der USA aber als unbeliebter, gar schlechter Präsident ein. Vietnamkrieg, Rassenunruhen, Hinterzimmerpolitik werden mit ihm verbunden. Noch heute sehen drei Prozent der US-Bürger in ihm denjenigen, der Kennedy ermorden ließ, um selbst Präsident zu werden.
Verschwörungen
Die Ermordung von Präsident Kennedy beschäftigt die amerikanische Öffentlichkeit seither und noch immer. Die Schlussfolgerungen der Warren-Kommission, die von Präsident Johnson eingesetzt wurde und zum Ergebnis kam, dass der Täter alleine handelte, blieb weiten Teilen der Öffentlichkeit immer suspekt. Denn parallel setzte eine intensive Produktion von Verschwörungstheorien an.
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Sie gingen in ganz unterschiedliche Richtungen: Lee Harvey Oswald soll nicht alleine gehandelt haben, sondern kubanische oder sowjetische Hintermänner gehabt haben. Oder: Wirtschaftsinteressen und die Mafia wollten Kennedy los werden. Oder: Hinter dem Attentat sollen die amerikanische Dienste gestanden haben, die selbst für die Ermordung sorgten.
Oder: Der eigentliche Initiator soll Lyndon B. Johnson gewesen sein. Pikant ist, dass die letzte These von Roger Stone vertreten wird, einem jahrzehntelang engen Berater von Donald Trump. Und dann wurde die ganze Verschwörungsidee von Oliver Stone in „JFK“ mit Kevin Costner ins Bild gesetzt. So etwas bleibt haften.
Trump darf nicht fehlen
Donald Trump selbst darf auch hier nicht fehlen. Er hat seine eigene Theorie in den letzten Wahlkampf eingebracht, als er seinen Rivalen Ted Cruz beschuldigte, Cruz` Vater hätte mit der Ermordung von Präsident Kennedy zu tun. Wie? Tatsächlich geben die Dokumente schon länger her – und das bestätigen auch die neu veröffentlichten Akten – dass es Versuche von Exilkubanern gab, über Kontakte zur Organisierten Kriminalität unter anderem auch Fidel Castro ermorden zu lassen. Der Vater von Ted Cruz war politischer Gefangener in Kuba, bis er nach Kanada auswanderte.
Neue Dokumente
Nun wurden weitere 53 Dokumente erstmals veröffentlicht. Bei den insgesamt 2.981 Dokumenten, die zuvor schon teilweise bekannt waren, wurden die bisher geschwärzten Passagen, insbesondere die Namen, nun lesbar. Der interessanteste Teil aber ist, dass eben nicht – wie angekündigt und gesetzlich seit 25 Jahren vorgeschrieben – alle Dokumente veröffentlicht wurden.
Wie die "New York Times" recherchiert hat, bleiben 27.000 Dokumente teilweise und fast 3.000 Dokumente gänzlich geheim. Dafür haben gegen Trumps frühere Ankündigung, alles zu veröffentlichen, die Sicherheitsdienste CIA und FBI gesorgt. Sie wurden, mag man ironisch einwenden, von dem seit 25 Jahren feststehenden Datum zur Veröffentlichung möglicherweise überrascht. Insbesondere CIA-Direktor Mike Pompeo soll Trump hierzu bewogen haben.
In einem halben Jahr sieht man weiter
Als Erklärung für das Zurückhalten von Akten hatten die US-Medien berichtet, viele Dokumente stammten aus den 1990er-Jahren. Und enthielten deshalb Namen von Mitarbeitern und Quellen, die noch leben. Sie seien ebenso zu schützen wie die darin aufgeführten Methoden, mit denen die Dienste an ihre Informationen gelangten. Ist das angesichts der hohen Zahl an zurückgehaltenen Dokumenten glaubwürdig? Ich habe da meine Zweifel. Aber wir erleben die Nagelprobe ja im nächsten Jahr.
Denn die Sicherheitsdienste haben noch ein halbes Jahr Zeit, diese Berichte nun intensiv zu studieren und daraufhin abzuklopfen, was wirklich schützenswertes Wissen ist. Alles andere müsste dann am 26. April 2018 veröffentlicht werden. Falls der Präsident dann nicht wieder anders entscheidet.
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Fragen bleiben
Die bisherige Auswertung der neu zugänglichen Dokumente weist nicht auf eine grundlegende Neubewertung der Ereignisse hin. Das meiste war ja zuvor schon bekannt. Einige Tatsachen, die weiterführende Fragen aufwerfen, wurden darin aber bestätigt.
So wird unterstrichen, dass Lee Harvey Oswald von den amerikanischen Diensten vor dem Attentat intensiv überwacht wurde. Als früherer Marinesoldat war Oswald im Oktober 1959 in die Sowjetunion gereist und hatte eine russische Frau geheiratet. Mit ihr und ihrem Sohn war Oswald im Juni 1962 in die USA zurückgekehrt. Das war in den Sechziger Jahren angesichts der Spannungen zwischen den USA und der Sowjetunion Grund genug, ihn intensiv zu überwachen. Hätten die Dienste deshalb Hinweise auf das geplante Attentat erkennen können?
Ebenfalls nicht neu, aber bestätigt: Das FBI hatte die Kollegen in Dallas eindringlich gewarnt, dass sich der festgenommene Täter in Gefahr befinde. Oswald wurde von Jack Ruby, einem Nachtclubbesitzer, am 24. November 1963 in der Polizeistation von Dallas erschossen.
Eine politische Kultur des Misstrauens gegen die eigene Regierung
So wird es vorläufig bei den Interpretationen der Warren-Kommission bleiben. Doch die anderen Theorien sind nicht vom Tisch. Im Gegenteil. Dass nicht alle Unterlagen veröffentlicht wurden, wird ihnen neue Aufmerksamkeit sichern.
Am stärksten bei der Betrachtung dieser Entwicklung ist zu beachten, dass auch heute noch zwei Drittel der US-Bürger die Darstellung ihrer Regierung über die Ermordung Kennedys nicht für bare Münze nehmen und 13 Prozent ihr sogar zutrauen, hinter dem Mord zu stehen. Das sagt über die politische Kultur in den USA sehr viel aus.
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