Es war ein quälender Prozess, aber jetzt ist es vollbracht: Union und SPD machen einen Riesenschritt in Richtung große Koalition. Die Einigung bringt die Genossen aber ins Rotieren - und am Ende kann noch alles schief gehen. So kommentiert die Presse.
"Groko-Schimpfer sind die Verlierer des Tages"
"Rhein-Neckar-Zeitung": "Das Beste an diesem Koalitionsvertrag ist die Tatsache, dass es ihn gibt. Mag man jetzt schimpfen, dass kein bisschen gespart wird, dass die Ziele zu wenig ehrgeizig sind, dass SPD und CSU jeweils deutlich zu viele (und zu wichtige) Ressorts besetzen: Alles andere, also ein Scheitern der Verhandlungen, hätte zu einem politischen Fiasko geführt. Die, die jetzt am lautesten schimpfen, das sind sozusagen die Verlierer des gestrigen Tages. Deutschland bleibt regierungsfähig - wenngleich von zwei deutlich geschwächten Parteien."
"Deutschen sind keine Nation der Mutigen - anders lässt sich Merkels vierte Kanzlerschaft nicht erklären"
"Mittelbayerische Zeitung": "Die Deutschen sind keine Nation der Mutigen, im Gegenteil, der Ausdruck "German Angst" ist international zum stehenden Begriff geworden. Wagnisse schätzt man zwischen München und Flensburg nicht. Anders lässt sich nicht erklären, warum Merkel zum vierten Mal Kanzlerin wird. Und es stimmt ja auch: Es gibt Schlimmeres als eine Neuauflage der Großen Koalition: weitere Monate, in denen die Regierung nur geschäftsführend im Amt ist und nur bedingt handlungsfähig.
Eine Minderheitsregierung wäre das auch; sie müsste für jede Entscheidung Mehrheiten sammeln. Zerstritten, wie die SPD es ist, wäre das jedes Mal eine Zitterpartie gewesen. Und Neuwahlen hätten keine Klarheit gebracht, zudem ziemlich sicher ein weiteres Erstarken der AfD."
"Wenn die SPD jetzt noch Nein sagte, wäre sie verrückt"
"Kölner Stadt-Anzeiger": "Die Bilanz ist eindeutig: Die SPD hat erfolgreich verhandelt. Sie geht jetzt mit besseren Aussichten auf die Regierung zu, als sie es sich noch vor Wochen hätte erträumen können. Für die Demokratie ist es gut, dass die Parteiführung die Mitglieder über den Koalitionsvertrag abstimmen lässt. Aber: Wenn die SPD jetzt noch Nein sagte, wäre sie verrückt."
"Klare Sieger der Berliner Marathon-Sitzungen sind jedoch die Sozialdemokraten"
"Stuttgarter Zeitung": "Mit Blick auf die inhaltlichen und personellen Verhandlungserfolge der drei Parteien gibt es einen ersten, einen zweiten und einen dritten Sieger. Um hinten anzufangen: Die CDU hat sich offenbar damit begnügt, ihrer Chefin das Kanzleramt zu sichern. Das ist gelungen, viel mehr aber auch nicht – es sei denn, man hält die Abwehr einiger Forderungen der SPD für hinreichend.
Die CSU hat die Mütterrente durchgesetzt und bekleidet in der künftigen Regierung zentrale Ressorts wie Digitalisierung, Verkehr und ein aufgewertetes Innenministerium. Der klare Sieger der Berliner Marathon-Sitzungen sind jedoch die Sozialdemokraten."
"SPD-Führung legt der Partei eine Schlinge um den Hals"
"Märkische Oderzeitung": "Dass die SPD-Mitglieder für die Fortsetzung der Großen Koalition stimmen werden, dafür ist die Wahrscheinlichkeit stark gestiegen. Denn zum einen gab es wohl noch nie einen Wahlverlierer, dem nach der Niederlage potenzielle Koalitionspartner so lange und so sehr die Stiefel leckten, dass sie zum Schluss fast blitzblank blinken.
Zum anderen legte die SPD-Führung der Partei quasi eine Schlinge um den Hals: Martin Schulz hat als Vorsitzender Platz für Andrea Nahles gemacht. Scheiterte diese an einem Nein der Mitglieder zur GroKo und träte sie folglich ebenfalls zurück, käme das wohl einem Selbstmord der deutschen Sozialdemokratie gleich."
"Personalie Martin Schulz an Peinlichkeit nicht zu überbieten"
"Pforzheimer Zeitung": "Abseits des innerparteilichen Machtkampfs um die Bildung einer schwarz-roten Bundesregierung, ist die Personalie Martin Schulz an Peinlichkeit nicht zu überbieten. Die SPD hat schon viele Vorsitzende scheitern gesehen und scheitern lassen. Der Fall von Martin Schulz als Parteichef ist freilich beispiellos. Vom 100-Prozent-Parteichef innerhalb eines Jahres zum Verlegenheits-Außenminister – das ist erbärmlich.
Vor allem, wenn man bedenkt, dass der Kanzlerkandidat Martin Schulz das schlechteste Wahlergebnis für die SPD bei einer Bundestagswahl eingefahren hat. Vor allem, wenn man bedenkt, wie oft er nach der Wahl nicht Wort gehalten hat. Sowohl eine Große Koalition als auch das Ministeramt in einer von Angela Merkel geführten Regierung schloss er partout und mehrfach aus. Hätte Schulz Rückgrat, würde er zurücktreten."
"Groko ist ein Bündnis dreier Politiker, deren Zeit eigentlich schon abgelaufen war"
"Lübecker Nachrichten": "Das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen lässt sich mit einem Satz zusammenfassen: Angela Merkel rettet ihre Kanzlerschaft, Martin Schulz rettet sich ins Außenministerium, Horst Seehofer rettet sich nach Berlin. Es ist ein Bündnis dreier Politiker, deren Zeit eigentlich schon abgelaufen war. Ein Bündnis, mit dem nach der Bundestagswahl kaum jemand gerechnet hätte – mit Ausnahme der kühl kalkulierenden Kanzlerin womöglich."
"SPD darf Fehler nach den Sondierungen nicht wiederholen"
"Ludwigsburger Kreiszeitung": "Mehr kann man als 20-Prozent-Partei nicht herausholen. Das macht auch wett, dass sich die SPD bei der Bürgerversicherung oder der sachgrundlosen Befristung nicht vollends durchsetzen konnte. Nun darf die Parteispitze den Fehler, den sie nach den Sondierungen begangen hat, nicht wiederholen: Die Ergebnisse zu zerreden, schlecht zu machen oder gänzlich in Frage zu stellen. So überzeugt man keine kritische Mitgliedschaft für eine neue Große Koalition.
Blickt man auf die Union, hat dort schon die Debatte begonnen, ob man der SPD nicht zu viele Zugeständnisse gemacht hat. In der Tat ist es so, dass von den Unionsparteien einzig die CSU zufrieden sein kann. Sie hat mit dem Innenministerium ein Ressort bekommen, mit dem sie die Flüchtlingskanzlerin Angela Merkel künftig stärker an die Kandare nehmen kann. Das wollte die CSU immer. Nebenbei kann Parteichef Horst Seehofer galant nach Berlin abgeschoben werden."
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