Bei einem Lkw-Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz ermordete der islamistische Attentäter Anis Amri am 19. Dezember 2016 zwölf Menschen, etwa 70 wurden teilweise schwer verletzt. Das Attentat traf Deutschland ins Herz – und deckte viele Schwachstellen in der Terrorabwehr auf, insbesondere die mangelnde Vernetzung der Sicherheitsbehörden.
Fast 15 Monate sind seit dem Anschlag vergangen, und immer wieder werden meine Kollegen und ich gefragt, was sich seither eigentlich in Sachen Sicherheit verbessert hat. Die ehrliche und zugleich bedrückende Antwort: Chancen für eine tiefgreifende Neuausrichtung mit substanziellen Verbesserungen wurden bisher vertan. Dabei ist es in vielerlei Hinsicht fünf vor zwölf.
Nationaler Flickenteppich im Sicherheitsbereich
Die mit Abstand größten Probleme lauern in unserer Sicherheitsarchitektur. Im Nachkriegsdeutschland hatten die Westalliierten sich aus guten Gründen entschieden, keine zentrale nationale Sicherheitsbehörde mehr zuzulassen und die Polizeiarbeit von den Nachrichtendiensten zu trennen. Folglich liegt heute die Hauptzuständigkeit der Verbrechensbekämpfung und Gefahrenverhütung in Länderhoheit.
Über den Autoren
Sebastian Fiedler ist Vizechef des Bundes Deutscher Kriminalbeamter.
Hier haben sich in den letzten Jahrzehnten 16 völlig unterschiedliche Polizeiorganisationen entwickelt, die eigentlich in vielerlei Hinsicht harmonisiert und mit verbindlichen Regeln der Zusammenarbeit innerhalb Deutschlands ausgestattet werden müssten. Bundesweite Standards, etwa bei der Beschaffung von Ausrüstung oder bei der Qualifikation, wären auch längst zeitgemäß.
Strukturprobleme erschweren Datenaustausch
Es gilt inzwischen als Allgemeinwissen, dass die Polizeibehörden der Länder über unterschiedliche IT-Systeme verfügen und der Informations- und Datenaustausch nicht so funktioniert, wie man es im 21. Jahrhundert erwarten dürfte. Zusätzlich verfügen die Länder in den jeweiligen Finanzressorts über Steuerfahndungsdienststellen – ebenfalls unterschiedlich organisiert – sowie über Landesämter bzw. -behörden für den Verfassungsschutz.
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All diese Behörden müss(t)en in unterschiedlicher Weise mit den Behörden des Bundes kooperieren, etwa mit dem Bundeskriminalamt, der Bundespolizei, dem Zollkriminalamt und dem Bundesamt für Verfassungsschutz.
Nicht gewappnet für neue Herausforderungen
Diese Architektur der Sicherheit ist nicht zukunftsfest. Die nüchterne Feststellung gilt nicht nur wegen des hochproblematischen Umgangs mit sogenannten terroristischen Gefährdern, sondern auch aufgrund sich rapide wandelnder Kriminalitätsformen. Das digitale Zeitalter bringt völlig neue Verbrechensphänomene zu Tage, ermöglicht verschlüsselte Kommunikationsformen und sorgt dafür, dass sich kriminelle Märkte in den virtuellen Raum des Darknets verlagern.
Täter handeln nicht mehr deliktstreu. Der Menschenhändler von heute vertreibt morgen möglicherweise schon gestohlene Kreditkartendaten. Terrorismus und Organisierte Kriminalität sind häufig nicht mehr zu trennen. Professionelle Täter handeln nur noch selten lokal oder regional. Europäische Ermittlungen werden in vielen Deliktsfeldern zur Regel. Die Liste der künftigen Herausforderungen ließe sich fortsetzen.
Neuer Innenminister Seehofer muss rasch handeln
Alle Augen richten sich daher auf die neue Bundesregierung, insbesondere auf Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU). Er muss gute Projekte seines Amtsvorgängers wie das IT-Jahrhundertprojekt „Polizei 2020“ fortsetzen, er muss aber auch tiefgreifende Verbesserungen der Sicherheitsarchitektur vorantreiben. Noch immer haben wir 16 unterschiedliche Polizeigesetze, die den Polizeibeamten der Länder 16 verschiedene Instrumentenkästen zur Gefahrenabwehr zur Verfügung stellen.
So dürfen in mehreren Bundesländern gegen Gefährder, bei denen kein Strafverfahren vorliegt, keine Telefonüberwachungsmaßnahmen angeordnet werden. Derzeit arbeitet zwar die Innenministerkonferenz an einem neuen Musterentwurf für ein einheitliches Polizeigesetz – der letzte Entwurf stammt aus 1986 – jedoch bleibt das Problem bestehen, dass sich die Länder häufig an Beschlüsse der Innenministerkonferenz herzlich wenig gebunden fühlen.
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Ländern, die Beschlüsse nicht umsetzten, drohen keine Sanktionen. Das wichtige Gremium Innenministerkonferenz bleibt in solchen Fällen ein reiner Debattierklub. Uns fehlt daher ein grundgesetzlich verankertes Instrument, die Länder in Fällen von übergeordneter Bedeutung zu einer einheitlichen Gesetzgebung zu zwingen. Wenn Richtlinien der EU von Mitgliedsstaaten nicht umgesetzt werden, droht ihnen ein Vertragsverletzungsverfahren, das bis zu einer Verurteilung durch den Europäischen Gerichtshof führen kann. Wenn ein Bundesland Beschlüsse einer Minister(präsidenten-)konferenz nicht umsetzt, droht – nichts.
Europäische Bekämpfung der Kriminalität notwendig
Und noch etwas fehlt uns: Das Bekenntnis dazu, dass wir europäische Kriminalität auch europäisch bekämpfen müssen. Es sollte eigentlich unstreitig sein, dass wir die europäische Polizeibehörde EUROPOL zu einer Polizeibehörde fortentwickeln müssen, die in Kooperation mit den Mitgliedsstaaten auch europaweit ermitteln kann und darf.
Für eine erfolgreiche Kriminalitätsbekämpfung in der Bundesrepublik Deutschland und in Europa sind neben einer zukunftsfesten Sicherheitsarchitektur zwei weitere Faktoren erfolgskritisch: Die Quantität sowie die Qualifikation des zur Verbrechensbekämpfung zur Verfügung stehenden Personals. Die deutschen Polizeibehörden benötigen etwa 20.000 zusätzliche Kriminalbeamte und Tarifbeschäftigte im Kriminaldienst. Der Erfolg ist aber noch mehr von einer möglichst hohen Qualifikation der Kriminalisten abhängig.
Mangelnde Ausbildung könnte schwere Folgen haben
Gerade auch vor dem Hintergrund von IT-Megaprojekten wie „Polizei 2020“, also der Errichtung eines deutschen „Datenhauses“, werden bundeseinheitliche Standards für die Ausbildung und die Studieninhalte der Kriminalistinnen und Kriminalisten benötigt. Eine Vernachlässigung dieses Themas würde anderenfalls zur größten Achillesferse der deutschen Sicherheitsarchitektur werden. Oder, um es mit den Worten des ehemaligen Präsidenten des Bundeskriminalamtes Jörg Ziercke zu formulieren: „Wir brauchen die richtige Ausbildung für mehr Sicherheit!“
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