DOMRADIO.DE: Zehn Millionen Euro mehr Spenden für die Armen der Welt. Sind die Menschen doch nicht so egoistisch, oder wie erklären Sie sich diese Steigerung?
Pirmin Spiegel (Hauptgeschäftsführer von Misereor): Die Steigerung hat sicherlich sehr viele Ursachen. Im letzten Jahr sind 23.000 Spenderinnen und Spender mehr dazugekommen. Wir sehen als erstes einen großen Vertrauensvorschuss und eine Wertschätzung für die Arbeit von Misereor. Das Hilfswerk wurde 1958 gegründet, also vor 60 Jahren. Es tut sehr gut, diese Solidarität und Wertschätzung 2018 zu erfahren. Wir freuen uns und danken den Spendern, dass sie uns und unsere Motivation mitgetragen haben. Mit den zehn Millionen Euro mehr konnten wir in allen Kontinenten auf unserem Planeten einen Beitrag zu mehr Menschenwürde und einer größeren Gerechtigkeit leisten.
DOMRADIO.DE: Misereor setzt sich vor allem für die Bekämpfung von Fluchtursachen in Krisengebieten ein. Können Sie ein Beispiel nennen, für was Misereor das Geld konkret ausgibt?
Spiegel: Es ist schwer aus den 3.000 Projekten, die wir in mehr als 90 Ländern dieser Erde unterstützen, einige herauszugreifen. Wir sind im Bildungs- und Gesundheitsbereich tätig. Wir versuchen, einen Beitrag zu leisten, um die Potenziale der Menschen vor Ort zu fördern.
Lassen Sie mich ein konkretes Projekt herausgreifen: Padma ist einer der größten und ärmsten Bundesstaaten im indischen Subkontinent. Dort versuchen wir mit einer Partnerorganisation die Würde von Kindern und Jugendlichen, die keine Lebensperspektiven und Zukunft haben, mit Vorschulunterricht zu stärken, damit sie wieder in "normale" Schulen gehen können. Wir unterstützen das Projekt auch mit Öffentlichkeitsarbeit.
DOMRADIO.DE: Oft geht es bei den Projekten darum, Fluchtursachen zu bekämpfen. Es werden weiter Menschen auf der Flucht sein und zu uns nach Deutschland kommen. Die AfD hat das Thema Flüchtlinge zu ihrem großen Thema gemacht und geht Flüchtlinge sehr aggressiv an. Wie beobachten Sie diese Entwicklung?
Spiegel: Es gibt 68 bis 70 Millionen Menschen, die derzeit auf der Flucht sind. Diese Flüchtlinge kommen – das möchte ich betonen – nur zu einem geringen Teil zu uns nach Deutschland. Etwa 40 der 68 Millionen sind Binnenflüchtlinge. Das heißt, sie bleiben in ihrem eigenen Land. Andere versuchen in benachbarten oft sehr armen Ländern, Schutz und Zuflucht zu suchen.
Das heißt, eine kleine Minderheit dieser gesamten Flüchtlingszahl kommt nach Deutschland. Ich schließe mich dem Satz von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble an: Das ist für uns in Deutschland und in Europa ein Rendevouz mit der Globalisierung. Migration und Flucht durch Krieg oder Konflikte hat es schon immer gegeben.
Die Menschen versuchen, in ihrem eigenen oder einem anderen Land ein Leben in Würde zukunftssicher zu leben. Wir versuchen, diese großen Zusammenhänge aufzuzeigen. Dabei sind uns die vier Verben wichtig, die Papst Franziskus immer wieder unterstreicht: Erstens geht es darum, Flüchtlinge und Migranten aufzunehmen, das heißt, legale Wege der Einwanderung zu ermöglichen. Zweitens darum, Menschen die unterwegs sind, in der Suche nach einem würdigen Leben zu schützen. Drittens, Menschen, die zu uns kommen, zu fördern und viertens darum, sie zu integrieren. Das heißt, sie mit an die Tische zu setzen, damit sie partizipieren können.
Die Diskussion um Flucht und Migration muss in einem breiteren Kontext gesehen werden und darf nicht darauf reduziert werden, dass unsere Grenzen nicht mehr zu schützen seien, man den Herausforderungen nicht mehr gewachsen sei und der Rechtsstaat in Gefahr gerate. Das ist eine sehr eingeengte Diskussion, und wir möchten einen Kurswechsel in der Debatte um Flucht und Migration erreichen und mit dazu beitragen.
DOMRADIO.DE: "Wir schaffen das" hat Angela Merkel gesagt und wird für diesen Satz - selbst aus den eigenen Reihen - kritisiert. Schaffen wir das?
Spiegel: "Wir schaffen das" hat Angela Merkel in Jahr 2015 in einem anderen Kontext gesagt. Da wurden sicherlich Defizite und Fehler gemacht, um die Potenziale besser zu kommunizieren und gleichzeitig die Herausforderungen für die Bevölkerung in Deutschland, für den Bildungs- und Gesundheitssektor und das soziale Engagement mitzudenken. Wir sind dabei, mit Gesprächen und konkreten Aktionen diesen Diskurs in einen größeren Zusammenhang zu stellen.
DOMRADIO.DE: Angela Merkel ist in ihrer Amtszeit nicht oft nach Afrika gereist. Holt die Kanzlerin nun Versäumtes nach?
Spiegel: Ja, das wäre eine Deutung. Zugleich ist der Bundesminister für Entwicklung und Zusammenarbeit, Gerd Müller, in sieben Staaten Afrikas unterwegs. Das zeigt, dass die Bundesregierung und auch Europa einen Fokus auf unseren Nachbarkontinent Afrika setzt. Das spiegelt sich auch darin, dass auf dem letzten G20-Gipfel Ende des vergangenen Jahres Afrika einer der Themenschwerpunkte war.
DOMRADIO.DE: Die EU will in den kommenden Jahren 370 Milliarden Euro allein für Agrarsubventionen ausgeben, für die gesamte Afrikahilfe aber nur 39 Milliarden – ein Zehntel davon. Wie schätzen Sie die Aktivitäten der Bundesregierung und Europas ein?
Spiegel: Das zeigt, dass eine Asymmetrie in der Handels- und Wirtschaftspolitik besteht. Die Partner, die zu Misereor nach Aachen kommen, erzählen von den Folgen dieser Asymmetrie. 370 Milliarden Agrarhilfen werden für die Landwirtschaft in Europa verteilt. Das sind indirekte Subventionen, die zum Beispiel Bauern und Bäuerinnen in Afrika spüren.
Die Produkte, die importiert werden, sind billiger als die in Afrika produzierten. Deshalb muss, wenn über Entwicklungszusammenarbeit und Fairness geredet wird, auch über Handels-, und Wirtschaftspolitik, Ungleichheit und Ressourcenausbeutung gesprochen werden. Es hat mal eine Zeit gegeben – während dem Lomé-Abkommen, das schon viele Jahrzehnte zurückliegt – in der afrikanische Staaten keine Zölle bezahlen mussten, um ihre Produkte besser auf europäischen Märkten anbieten zu können. Aber ich möchte unterstreichen: Jeder Staat der 54 afrikanischen Staaten hat eine eigene Identität und Geschichte.
Ebenso dürfen wir nicht vergessen, dass ein Großteil der Menschen in diesen Ländern Afrikas im landwirtschaftlichen Sektor unterwegs ist und dass 80 Prozent der Afrikanerinnen und Afrikaner im informellen Sektor arbeiten. Das heißt, die lokale Produktion für lokale Märkte wird zu wenig gesehen. Es wird zu schnell über eine Integration in den Weltmarkt gesprochen. Darüber sollten wir auch reden. Aber wichtig ist, die lokalen Bedürfnisse und Möglichkeiten nicht aus dem Auge zu verlieren.
DOMRADIO.DE: Warum ist es ein besonderer Auftrag für Christen, sich für die armen Länder der Welt oder für den Umweltschutz zu engagieren?
Spiegel: Papst Franziskus hat in der Enzyklika "Laudato si" die soziale Dimension, das Engagement zugunsten der Verletzlichsten an der Seite der Armen und die soziale und ökologische Herausforderung zusammengedacht. Es gibt in der ganzen Geschichte der Bibel, in der "DNA" der Bibel, die Grunderfahrung: "Ich habe den Schrei meines Volkes gehört und bin herabgestiegen, um sie zu befreien." Befreien aus Situationen der Unmenschlichkeit.
Im Glaubensbekenntnis bekennen Christinnen und Christen: "Ich glaube an Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erde." Von daher gehören Schöpfung und Menschenwürde zur DNA der Bibel. Immer wieder wird in der Geschichte der Bibel gezeigt, dass Gott durch die Propheten eine Sehnsucht hat, an der Seite der Verletzlichsten und Ausgegrenzten unterwegs zu sein.
Das Interview führte Dagmar Peters.
*Der Beitrag "Misereor freut sich über Spendenrekord zum 60. Jahrestag" stammt von DOMRADIO.DE. Es gibt keine redaktionelle Prüfung durch FOCUS Online. Kontakt zum Verantwortlichen hier.
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