Es trägt den provokanten Titel “Feindliche Übernahme, Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht”.
Schon jetzt gibt es massive Kritik an dem Werk, schon jetzt ist es aber auch ein Bestseller.
Wir haben mit einer Expertin, die sich wirklich mit dem Islam auskennt, über die wichtigsten Thesen des Politikers gesprochen: der Islamwissenschaftlerin Rida Inam. Sie arbeitete zuletzt an der Fakultät für Islamische Theologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen.
HuffPost: Thilo Sarrazin schreibt, “liberale Muslime“ seien in der Welt eine “winzige und hoffnungslose” Minderheit. Stimmt das so?
Inam: Das ist natürlich die These, auf die Herr Sarrazin sein ganzes Buch hinschreibt. Es macht für ihn aber auch gar keinen Unterschied, dass es erfolgreiche liberale Muslime mit großen Bildungserfolgen gibt.
Er selektiert die Statistiken, die er nutzt, um seine Thesen zu stützen. Das ist natürlich das Gegenteil von Wissenschaft. Muslime mit großen Bildungserfolgen sind von Anfang an nicht relevant für ihn – er stellt sie als Ausnahme dar, die nicht repräsentativ sei. Das ist eine ganz typische Verblendungsstrategie.
Nun schauen Medien – und auch Herr Sarrazin – gerne auf Länder wie Saudi-Arabien, den Iran oder die Staaten Nordafrikas, wenn sie über muslimische Länder sprechen. Ist dieser Blick zu beschränkt?
Ich denke, der Blick ist an dem Ergebnis orientiert, das Sarrazin will. Schon jetzt zeigen die Rezensionen seines Buches ja gut auf, wie viele Fehler er gemacht hat.
Wenn sich Sarrazin ein muslimisches Land in Afrika ansieht, und das Nachbarland, das christlich geprägt ist und ähnliche Probleme hat, ausblendet, zeigt das doch schon die Fragwürdigkeit seiner Thesen. Dazu kommt: Sarrazin hat sehr viele blinde Flecken in der Geschichte.
Er will sich den Islam diachron anschauen, aber spart den Kolonialismus beinahe aus, genau wie die Errungenschaften des goldenen Zeitalters des Islam. Er behauptet ja sogar, der Islam habe keine Kunst, keine Kultur und keine Architektur hervorgebracht. War Herr Sarrazin schon einmal in Spanien?
Nun könnte man sagen: In Saudi-Arabien müssen sich Frauen verhüllen, durften bis vor kurzem kein Auto fahren, im Iran werden Straftäter ausgepeitscht und hingerichtet, in der Türkei kommt es jährlich zu mehr als 100 Ehrenmorden. Ist der Islam wirklich nicht für diese rückständigen Tendenzen mitverantwortlich?
Zunächst einmal: Wir müssen die Zustände, die in diesen Ländern vorherrschen, kritisieren. Aber das Übel, was all dem zugrunde liegt, ist zunächst das Patriarchat. Natürlich kann man das Patriarchat durch islamische Regeln rechtfertigen – und das geschieht auch, das will ich gar nicht schönreden.
In dem Moment, wo exklusiv Männer den Islam auslegen, wird er immer auch solche rückständigen Seiten offenbaren. Deshalb erleben wir gerade auch einen Boom des islamischen Feminismus.
Aber es ist noch ein weiter Weg...
Sicherlich. Aber wir müssen doch präzise sein: In Saudi-Arabien, haben wir den Wahhabismus, im Iran den Dogmatismus der Mullahs. Es sind autokratische Staaten, die sich auch abseits der Religion nicht mit freiheitlichen Staaten vergleichen lassen.
Dazu kommt: Auch Europäer, ja auch Deutsche, begehen Ehrenmorde. Sie werden vielleicht nicht als Ehrenmorde bezeichnet, weil sie nicht das Wort “Ehre“ benutzen. Aber pro Jahr werden in Deutschland mehr als 100 Frauen getötet durch den Partner oder den Ex-Partner – und das hat denselben Hintergrund, Das sind schlicht und einfach Folgen des Patriarchats, die universell sind.
Der Islam ist für Sarrazin der Grund für die “unterdurchschnittliche Bildungsleistung der muslimischen Bevölkerung überall in der Welt”. Gibt es dafür irgendwelche Anhaltspunkte?
Ich wüsste es nicht, nein. Man kann gerne kritisieren, dass in muslimischen Ländern die Entwicklung stockt, weil für wirtschaftliche und politische Probleme zu oft Lösungen in der Religion gesucht werden. Diese Überfixierung ist tatsächlich da und muss überwunden werden.
Aber was an Sarrazins Thesen problematisch ist, ist, dass er nicht sagt: ‘Das ist eine aktuelle Entwicklung’.
Das ist nicht inhärent in der DNA des Muslimseins. Wenn er Fehler benennt, dann tut er so, als ob diese nicht überwunden werden können.
Und zur Bildungsfrage: Natürlich gibt es in vielen muslimischen Ländern Probleme. Aber wahr ist auch: In den vergangenen Dekaden haben laut Studien Muslime weltweit beim Bildungserwerb die größten Fortschritte gemacht.
Ein Beispiel, das Sarrazin anführt: In Finnland sei die Bevölkerung viel gebildeter als im Jemen. Hat das wirklich nichts mit religiöser Prägung zu tun?
Ich glaube nicht, dass das mit der Religion zu tun hat. Wenn man sich den Jemen anguckt, sieht man Kriege, Konflikte, Destabilisierung. Finnland ist wirtschaftlich stark, hat einen Zugang zur kostenlosen Bildung.
Was mich wundert, ist, dass Sarrazin sich nicht mal die USA anschaut. Da gibt es mehr Shopping-Malls als Schulen, das staatliche Bildungssystem in vielen Gegenden ist seit Jahren am Bröckeln.
Hat das mit Religion zu tun? Mit Puritanismus? Der Islam lehrt übrigens, dass Wissensaneignung wichtig ist. Auch da hat Sarrazin offenbar etwas falsch verstanden.
Sarrazin glaubt: Die Unterschiede, die es zwischen der muslimischen Welt und dem Westen gebe, würden sich in Zukunft noch verstärken. Denn: Muslime heiraten vor allem Muslime, laut Sarrazin sogar oft Verwandte. Dazu käme, dass eher sozial Schwache zum Islam konvertieren würden, weil sie sonst oft eine “Kopfsteuer“ bezahlen müssten.
Das ist eine moderne Rassentheorie. Sarrazin versucht durch die Hintertür zu argumentieren, dass Muslime eine in sich geschlossene ethnische Gruppe seien, die keine Chance hätte, ihrem angeblich unveränderlichen Status zu entkommen.
Sarrazin gehört zu der Elite, die ihre Privilegien nicht aufgeben will. Die nicht will, dass gesellschaftliche Hierarchien aufbrechen und deshalb verneinen, dass dies überhaupt möglich ist.
Seit dem Zensus in den USA 2010 und 2011 sehen wir dieses Phänomen sehr deutlich: Damals kam raus, dass zum ersten Mal weniger weiße Babys geboren wurden als andersethnische oder gemischte.
Das hat bestimmte Kreise extrem nervös gemacht. Die Heiratsthese ist übrigens nicht pauschal richtig: Der Koran verbietet nicht die Heirat mit Andersgläubigen.
Hier geht es darum, wie bestimmte Verse ausgelegt werden. Fakt ist, dass es schon immer viele Ehen zwischen Nicht-Muslimen und Muslimen gegeben hat und weiterhin gibt.
Der rückständige Islam sorge dafür, dass es kaum gelungene Integration und zu wenig Deutschkenntnisse gebe, sagt Sarrazin. Besonders seine Zeit in Berlin scheint ihn in seiner Meinung bestärkt zu haben...
Es gibt keine Belege dafür, dass das so ist. Integration liegt natürlich immer im Auge dessen, der die Kriterien dafür aufstellt. Das Problem ist ja: In dem Moment, in dem ich als muslimischer Migrant Deutsch lerne, bin ich für Sarrazin nicht mehr relevant.
Man kann entweder an der Integration scheitern, oder wird in der öffentlichen Betrachtung zur irrelevanten Ausnahme. Natürlich darf Sarrazin die Dinge, die er erlebt hat, kritisieren.
Aber Deutschland ist nicht Neukölln. Wir müssen Probleme richtig lokalisieren, dürfen sie nicht größer machen, als sie sind. Dann können wir auch Antworten suchen. Das würde ich Herrn Sarrazin auch mal vorschlagen.
(ame)
Dieser Artikel wurde verfasst von HuffPost / lp
Im Video: Polizei nennt Verdächtigen "Endgegner": Video zeigt missglückte Festnahme in Hagen
*Der Beitrag "Das sagt eine Islamwissenschaftlerin zu seinen Thesen" stammt von HuffPost. Es gibt keine redaktionelle Prüfung durch FOCUS Online. Kontakt zum Verantwortlichen hier.
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