Eine Chemnitzer Flüchtlingshelferin verfolgt mit Schrecken, was in ihrer Heimatstadt vor sich geht. Nach der Gewalt von Neonazis gegen Ausländer ist sie tief betroffen und räumt mit gängigen Vorurteilen gegen Ausländer auf. In ihrem Umfeld gilt sie als rechts. Ihr Mann ist Syrer.
Treffpunkt Marx-Monument, keine Namen. "Meine Reifen wurden schon zerstochen. Ich muss meine Familie schützen", erklärt eine Flüchtlingshelferin aus Chemnitz ihren Wunsch nach Anonymität. Sie lehnt ihr Rad an den Sockel und setzt sich Karl Marx' Bronzekopf vor die Nase. Trauerkerzen brennen an der Büste.
"Das hätte er nicht gewollt. Er hätte auch hier sitzen und wegen seiner kubanischen Herkunft über Alltagsrassismus berichten können", ist sich die Flüchtlingshelferin sicher. Sie meint den Mann, der am Samstag nach einer Messerattacke in der Chemnitzer Innenstadt starb. Weil die zwei Tatverdächtigen aus dem Irak und aus Syrien kommen, machten tausende Rechtspopulisten und Rechtsextreme den Verstorbenen zur Galionsfigur für ihre Zwecke: Fremdenhass schüren und ausleben.
Stimmen aus Sachsen
Ein Mann wird in Chemnitz auf offener Straße erstochen, danach macht ein rechter Mob Jagd auf Migranten. Sachsen steht derzeit international im Fokus. FOCUS Online wollte wissen: Wie sieht es dort wirklich aus und was denken die Menschen vor Ort über die Ereignisse? Unsere Reporter sind auf Spurensuche in Sachsen gegangen. Sie zeigen, welche Themen die Sachsen in ihrem Alltag beschäftigen. Haben Sie Angst, verspüren sie Hass? Schämen sie sich für ihr Bundesland? Und: Welche Forderungen stellen sie an die Politik?
Der Verein "Netzwerk für Integration und Zukunft – Flüchtlingshilfe Chemnitz" will ein Spendenkonto für die Hinterbliebenen einrichten. Freunde der trauernden Familie rieten aber dazu, das nicht unter dem Vereinsnamen zu tun. Zu groß ist die Sorge vor Übergriffen und Gewalt gegen die Initiatoren.
"Die AfD soll jetzt nicht auch noch mit einem Klingelbeutel rumgehen", sagt die Flüchtlingshelferin. Dieses ganze Thema müsse "raus aus dem Politischen und rein ins Menschliche. Es geht jetzt nur darum, der Familie zu helfen."
"Riesenschiss" vor Sachsen-Wahl 2019
Helfen. Mitgefühl zeigen. Aufeinander zugehen. Voneinander lernen. Einander respektieren. Alles Dinge, die sie sich wünscht für Chemnitz, für Sachsen, für Deutschland. Klingt gar nicht so schwierig. Doch scheinen viele Menschen hier weit davon entfernt.
Immer wieder schüttelt die Flüchtlingshelferin den Kopf. Sie ist hier geboren. In Chemnitz wohnen ihre Familie, ihre Freunde. Und was gerade in ihrer Heimatstadt passiert, macht sie tief betroffen. "Dass hier Rechte pöbelnd und Menschen jagend durch die Straßen ziehen und offen den Hitlergruß zeigen - das darf nicht sein. Wir haben alle Riesenschiss vor nächstem Jahr." Da sind Landtagswahlen in Sachsen. In Meinungsumfragen ist die AfD derzeit mit Abstand zweitstärkste Kraft.
Und insbesondere in der sächsischen Helfercommunity ist die Stimmungslage an einem Tiefpunkt angelangt. Die gesellschaftliche Spaltung macht den "Gutmenschen" ohnehin schon zu schaffen. "Wie kann ein Gutmensch etwas Negatives sein? Wie kann es schlecht sein, wenn ich offen und respektvoll auf andere Menschen zugehe?", fragt die Flüchtlingshelferin verärgert. Sie berichtet nun von erschrockenen Anrufen von Kollegen aus anderen Städten, von viel Resignation und Demotivation.
"Die können doch nicht pauschal jedem Ausländer unterstellen, dass er hierherkommt, um Frauen zu vergewaltigen, Menschen abzustechen und Kinder zu fressen." Die Stimme der Frau wird gepresster, höher. "Da krieg ich das große Schreien!" Die Gedanken in ihrem Kopf regen sie auf, machen sie emotional. Und ihre Zunge ist nicht schnell genug, um sie alle auf einmal in die Welt zu tragen. "Was hier passiert, ist rechter Terror."
Falschmeldungen schüren Ängste
Und das in ihrer Heimat. Vehement wehrt sie sich aber gegen die Darstellung, Chemnitz sei eine Nazi-Hochburg. Rechtsextreme aus ganz Deutschland seien am Montag hierher angereist. Auch sie sieht aber, dass viele Menschen hier Ausländern gegenüber kritisch eingestellt sind. Sie sprechen von einem Anstieg der Kriminalität, von jungen Männern, die Frauen belästigen, von teuren Klamotten und Schmarotzertum.
"Der Mensch hat Angst vor Sachen, die er nicht kennt. Entweder man stellt sich seiner Angst, lernt sie kennen und sieht, dass sie zum größten Teil unberechtigt ist. Oder man füttert sie", sagt die Flüchtlingshelferin. Ein großes Problem sind dabei Falschmeldungen und soziale Netzwerke, in denen sich diese rasch verbreiten.
Kriminelle Ausländer müssen abgeschoben werden, dieser Meinung ist sie auch. Deswegen wird sie in ihrem Umfeld als rechts angesehen und gerät mit Kollegen auch mal aneinander. Doch von diesen ausländischen Kriminellen gibt es bei Weitem nicht so viele, wie es Rechtspopulisten den Leuten glauben machen wollen.
Fakt ist: Die Kriminalitätsrate in Chemnitz ist rückläufig. 2017 ermittelte die Chemnitzer Polizei 91.500 Tatverdächtige. Nur gut 20 Prozent davon waren Nicht-Deutsche. Und wiederum nur die Hälfte dieser Gruppe waren Zuwanderer. Der Ausländeranteil in der Stadt liegt bei gerade mal acht Prozent.
"Flüchtlinge bekommen nicht mehr als Hartz-IV-Empfänger"
Wie die Flüchtlingshelferin berichtet, handelt es sich bei den Markenklamotten der Flüchtlinge meist um Spenden der Hersteller. Die Handys - auf legalem Weg erworben - brauchen sie, um die Familie zu kontaktieren, die teils überall auf dem Erdball zerstreut ist. "Ein Flüchtling bekommt nicht mehr Geld als ein Hartz-IV-Empfänger. Ich weiß nicht, wer das streut", ärgert sie sich.
Die subjektive Denkweise von vielen Sachsen ist dennoch eine andere. Die Chemnitzerin stellt eine "gewisse Hoffnungslosigkeit und Trostlosigkeit" bei einigen ihrer Mitmenschen fest. "Sie versuchen, das mit etwas zu füllen. Und wenn man gegen jemand anderen ist, scheint das eine einfache Lösung zu sein, anstatt an seinem eigenen Leben und den eigenen Problemen zu arbeiten."
Ihr Mann ist Syrer. 2013 floh er aus Damaskus. Vor Gefängnis, Folter und der Aussicht, auf die eigenen Leute schießen zu müssen. Seit 2015 lebt er in Deutschland - und spricht einwandfreies Sächsisch, wie seine Frau versichert. Seine Arbeitskollegen sind angetan von seinem Humor, seiner Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit.
Jene, die ihn nicht kennen, schauen ihn der Fußgängerzone skeptisch bis missfallend an. Und das ist der springende Punkt. Die Menschen müssen einander kennenlernen. Dazu muss auch die Politik mehr beitragen, durch entsprechende Angebote und Abbau der Sprachbarriere.
Dann hat auch die Flüchtlingshelferin aus Chemnitz noch Hoffnung, dass ein Miteinander in ihrer Stadt, in Sachsen und in Deutschland möglich ist. "Wir sind alle nur Menschen. Wir fühlen Schmerz und wir bluten. Sprache, Hautfarbe und Herkunft sind da egal. Gegenseitiges Akzeptieren und Tolerieren. Das reicht doch. Und dann kann immer noch jeder für sich entscheiden, wie viel Multikulti bei ihm ankommt."
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