Es gäbe viele Themen für diese letzte Kolumne des Jahres, doch eines schiebt sich in den sozialen Netzwerken krachend nach vorne: Der ideologische Krieg zwischen jenen, die im Böller ein Gut der Freiheit sehen, und den anderen, die als "grünversiffte Spaßbremsen" die Knallerei verdammen.
Bis gestern Abend hatte ich noch vor, an dieser Stelle zu schreiben über das neue Wettrüsten von Russland, China und den USA. Wobei mich die Frage sehr beschäftigt, ob man jetzt, da alles so digital wird, noch Raketen aus Stahl und Schießpulver fertigen muss. Weshalb gibt es noch keine Abschreckungs-App?
Oder die AfD - unter besonderer Berücksichtigung der Frage, ob das morgen beginnende neue Jahr ein frohes der AfD werde, schließlich sind Wahlerfolge für sie bei der Europa-Wahl im Mai und den drei Wahlen in Ostdeutschland denkbar. Und auch hier: Keine Anti-AfD-App. Was machen die im Silicon Valley eigentlich den ganzen Tag?
„Was wollen wir trinken“ tanzbar technisiert
Dann überlegte ich, mich aufzuregen über evangelische Pfarrer am Niederrhein, die offenbar asylsuchende Ex-Schiiten aus dem Iran schneller ins Christentums einwandern lassen, als die „Ich glaube an Jesus“ rufen können, worüber die FAZ einen wirklich wahrhaftigen, un-relotiushaften Tatsachen-Report verfasste. Ich finde die Frage, was man dazu als gelernter Christ sagen sollte, im übrigen komplex. Zu der Komplexität gehört allerdings auch die persönliche Erfahrung, wie schwer es einem ausgetretenen Freund fiel, nach Jahren wieder hineinzukommen in die Kirche. Dann aber las ich ein paar hundert Kommentare in den sozialen Netzwerken. Es ging um die Böllerei an Neujahr. Und es ging um unsere Freiheit, um nichts Geringeres. Da konnte ich nicht mehr widerstehen.
Über den Autor: Ulrich Reitz
Ulrich Reitz arbeitete als Korrespondent bei der Welt, war in der Startmannschaft von FOCUS, den er zuletzt führte, und war insgesamt 17 Jahre lang Chefredakteur der beiden größten deutschen Regionalzeitungen "WAZ" und "Rheinische Post". Er beschäftigt sich mit den gesellschaftlichen Folgen der Digitalisierung, der kulturellen Verfasstheit Deutschlands und der Performance seiner Eliten in Politik und Wirtschaft. Reitz versteht sich als wirtschaftlich ordoliberal und politisch konservativ. Er schätzt die gepflegte Kontroverse.
Mir wurde schnell klar: Hier geht es schließlich auch ums Wettrüsten. Der Unterschied: Putin, Xi und Trump sind weit weg, der böllerfreudige und dabei seine Freiheit suchende Nachbar ist sehr nah. Und noch eine Parallele: Unsereiner war ja dabei, als im Bonner Hofgarten anfangs der achtziger Jahre 300 000 Menschen gegen die Nachrüstung demonstrierten und Helmut Kohl im Helikopter über die für das Bundeshauptdorf unverhältnismässige Menge flog und sich grübelnd fragte: Haben die recht oder ich? (Er hatte.) Schon vor gut 35 Jahren ging es natürlich nicht nur um den Weltfrieden, sondern auch ums Feiern. „Was wollen wir trinken“, sangen die „Bots“. Dieses Lied hörte ich danach immer wieder an Silvester in der Düsseldorfer Altstadt inzwischen natürlich tanzbar technisiert.
Ich wollte einfach nur heroisch mitreden können
Apropos: Es gibt ja schon Böllerverbotszonen. Eine davon befindet sich tatsächlich in der Düsseldorfer Altstadt. Seitdem findet das Wettrüsten anderswo statt und die vielen Feierbiester müssen um zwölf keine Angst mehr haben, von einem illegalen Polenböller in die Notauflage des Evangelischen Krankenhauses bombardiert zu werden. Das mag nun wiederum an der Rot-Grünen Stadtregierung liegen und insofern könnten sich jene bestätigt fühlen, die hier illiberale grüne #Spaßbremsen am freiheitsberaubenden Werk sehen. Das ist ein durchgehender Topos in den Netzwerken, dass hier #Grünversiffte Freiheitsliebenden eins ihrer letzten Vergnügungsreservate nehmen.
Mein letztes großes Straßenfeuerwerk erlebte ich in Berlin, und zwar am Rande des Potsdamer Platzes auf dem Weg zum Brandenburger Tor. Dieses persönliche Erlebnis ist insofern repräsentativ, als an diesen Ort in dieser Nacht gefühlt nun wirklich jeder hin will. Ich machte den Fehler, mir anschauen zu wollen, was sich unmittelbar vor den Absperrungen so zuträgt. Nein, es war kein Reporter-Instinkt, ich wollte einfach nur heroisch mitreden können.
In Berlin grassiert seit Jahren der #Spaßwutbürger
Sie können mich jetzt für ein Weichei halten, aber: Nach 15 Minuten hielt ich dieses Bombardement nicht mehr aus. Ich habe viel gelesen über den Ersten Weltkrieg, und irgendwann desertierte ich einfach vom Potsdamer Platz. (Meine Frau, weniger verzärtelt als ich, nutzte die einmalige Gelegenheit noch für ein paar schöne Fotos, die allerdings, wie ich später herausfand, sich zur strafrechtlichen Verfolgung leider nicht eigneten - zuviel Schlachtenqualm.)
Jedenfalls: In Berlin regieren sie ja schon länger, die Roten und die Grünen. Irgendetwas muss also falsch sein am Argument mit den Spaßbremsen. In Berlin ist es anders: Dort hat die Freiheit der Feiernden Vorrang vor dem Ruhebedürfnis der Nur-Mit-Champagner-Anstoßer. Vielleicht breitet sich in Provinz-Deutschland ja der #Wutbürger aus. In Berlin grassiert seit Jahren der #Spaßwutbürger.
Verbote sind in freiheitlichen Gesellschaften immer schlecht, oder?
Etliche schreiben im Internet, seit 2015 habe sich das mit der Böllerei grundsätzlich verändert. Das kann ich nicht beurteilen. Was ich aber sicher weiß, ist, dass auch früher schon, als etwa die Düsseldorfer Altstadt schon noch mehrheitlich biodeutsch war, es dort auch eine Zone verminderter Rücksichtnahme gab: ein falsches Wort, und die Fäuste flogen, ganz unabhängig von Religion und Hautfarbe, und zack - freute sich der Zahnarzt. Seinerzeit wurde in der Familie heftig diskutiert, ob man dem Nachwuchs nicht den Besuch dort verbieten müsste. Heute ist das Verbot - #grünversifft #spaßbremse - verpönt in bestimmten Kreisen, allerdings solchen, die andere Verbote ganz in Ordnung finden, beispielsweise ein Verbot des #Islam.
Verbote sind in freiheitlichen Gesellschaften immer schlecht, oder? Einige meiner Wutfreunde schreiben, ausgerechnet die Böllerei, diese Freude des kleinen Mannes, solle, ginge es nach der Deutschen Umwelthilfe, verboten werden. Nicht aber die Kreuzfahrten, bei denen doch viel mehr Dreck durch den Luxus-Schornstein gepustet werde. Die reiche Elite habe sich wieder mal durchgesetzt (#Gelbwesten).
Was ist das für eine Welt, in der letzte Bastion des Anpacker-Mannes zum Umweltschützer werden muss?
Kurz darauf musste ich mich mit meinem Rad bei einem Regenschauer unterstellen. Das war in Ratingen und ich stand vor der Schaufensterscheibe eines Reisebüros. Dort hing ein riesengroßes Plakat. Die Aida warb mit nahezu emissionsfreien Kreuzfahrten auf ihrem neuesten Schiff und ich dachte: Warum machen die das? Kriegen die Geld von diesem Herrn Resch von der Umwelthilfe? Oder, schlimmer noch: Glauben die etwa der #lügenpresse, die schon länger Klage darüber führt, dass Kreuzfahrtschiffe immer noch dürfen, was Diesel nicht mehr dürfen?
Dann fiel mir ein, dass ich gelesen hatte, ein Baumarkt in Langenfeld habe Böller aus dem Sortiment genommen. Und ich dachte: Was ist das nur für eine Welt, in der jetzt schon die letzte Bastion des weißen Anpacker-Mannes zum weichgespülten Umweltschützer werden muss? Kurz darauf fiel mir auf der Suche nach einer Ausgleichsleiste in einem Baumarkt in Duisburg auf, wie viele Frauen jetzt da einkaufen, und zwar nicht nur Bastelsachen, sondern auch Handkreissägen.
2000 Jahre Fortschritt - Menschheit, du hast es weit gebracht
Ich finde Feuerwerke, wenn sie, möglichst groß angelegt und multikulturell so bereichernd wie das der Japaner in meiner Stadt, prima, obwohl vielleicht auch stimmt, dass heutzutage weniger Geister ausgetrieben werden müssen. Aber - kann man das wirklich wissen? In der FAZ schrieb eine gebildete Kommentatorin auf, dass früher Germanen die bösen Geister mit Hilfe brennender Räder austrieben. Da dachte ich voller Dankbarkeit: 2000 Jahre Fortschritt - Menschheit, du hast es weit gebracht.
No comments:
Post a Comment