16 Reporter, 16 Bundesländer - Mecklenburg-Vorpommern: Vor lauter Wut auf Merkels Politik kommen einer Ur-Vorpommerin die Tränen
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„Ostsee 7 Kilometer“, steht in altdeutscher Schrift auf einem Schild am Ortseingang geschrieben. Hinter den Toren eines Hauses ist lautes Gebell zu vernehmen. Die beiden Deutschen Schäferhunde wirken wie Wachposten des mecklenburgischen Dorfes Jamel. Im Zentrum des Ortes steht ein Wegweiser. Neben Berlin zeigen die Schilder auch nach Königsberg und Braunau am Inn – der Geburtsstadt Adolf Hitlers.
Bereits nach wenigen Minuten ist klar – Jamel ist kein gewöhnliches Dorf.
Der 35-Einwohner-Ort liegt südwestlich der Hansestadt Wismar und ist für seine stramm rechten Einwohner bekannt. Die Dorfgemeinschaft um den Neonazi Sven Krüger bezeichnet sich selbst als „national befreite Zone“.
Vor einer Scheune mit der Reichkriegsflagge auf dem Dach werkelt der NPD-Politiker auf seinem Hof herum. Breite Schultern, tätowiert, der lange Bart ist zu einem Zopf zusammengebunden. Seine ganze Erscheinung flößt Respekt ein.
„Die Köppe schreien nur am lautesten. Das zieht viele Menschen an“
Die ganzen AfD-Wähler seien nicht wirklich rechts, ist Krüger überzeugt: „Sie haben es nur satt, von denen da oben kontrolliert zu werden.“ Das sei ein Signal an die sogenannten Volksparteien. Von der rechtspopulistischen Partei halte er allerdings wenig: „Die Köppe schreien nur am lautesten. Das zieht viele Menschen an.“ Sein Kreuz hat er bei einer anderen Partei gemacht.
Deutschland deine Gesellschaft – 16 Reporter, 16 Bundesländer
Die Bundestagswahl hat gezeigt, dass ein Riss durch Deutschland geht. FOCUS Online nimmt das Wahlergebnis zum Anlass, mehr über Deutschland und die Deutschen zu lernen: Was waren ihre persönlichen Gründe für ihre Wahlentscheidung? Wo sehen sie Probleme, was sind ihre Wünsche und Hoffnungen? Um Antworten darauf zu finden, reisen 16 FOCUS-Online-Reporter eine Woche lang in die 16 Bundesländer.
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Ein Ehepaar wehrt sich gegen das Nazi-Dorf
Auf der gegenüberliegenden Seite des kleinen Ortes wohnt ein aufgeschlossenes Ehepaar inmitten von 10 Katzen. Vor ihrem Haus thront ein fünf Meter hohes Mahnmal aus verkohlten Holzbalken. Ein letztes Überbleibsel ihrer alten Scheune, die im Jahr 2015 durch Brandstiftung zerstört worden war. Es war der Gipfel einer Serie von Straftaten gegen Familie Lohmeyer.
Auf die Frage, ob sie einen Rechtsruck in Mecklenburg-Vorpommern sehen, reagiert die Frau des Hauses Brigitte mit einem zynischen Lachen: „Hier ist der Rassismus salonfähig. Die ehemaligen DDR-Bürger haben es nie gelernt, mit fremden Nationen umzugehen. In einer Diktatur aufzuwachsen, bedeutet, Grenzen zu kennen. Vielen fehlt die Neugier aufs Neue.“
Ihr Mann Horst stimmt ihr zu: „Die AfD hatte leichtes Spiel. Die Menschen haben Angst. Angst bedeutet immer ein Mangel an Informationen. Da ist die Partei reingegrätscht und stieß auf fruchtbaren Boden.“
"Union und SPD können Chance nutzen, das Volk wieder auf ihre Seite zu ziehen"
Eine große Mitschuld sieht Familie Lohmeyer bei den etablierten Parteien. „Sie verfolgen die Vogel-Strauß-Politik – bloß nichts Unangenehmes ansprechen, um keine Wählerstimmen zu verlieren“, so die Meinung von Brigitte. Jetzt wo die AfD im Bundestag sitze, könnten Union und SPD die Chance nutzen, das Volk wieder auf ihre Seite zu ziehen. Sie sollen endlich mal Tacheles reden, so die ehemalige Hamburgerin. Die Lohmeyers glauben aber nicht wirklich daran.
Auch die Wähler müssen Verantwortung übernehmen: „Demokratie bedeutet, mitzumachen“, appelliert Horst. Seine Frau setzt den Gedanken fort: „Wer diese Möglichkeit nicht nutzt, hat kein Recht zu protestieren.“ Sie selbst haben sich eine gesellschaftliche Verantwortung auferlegt. Ihr Ziel: Menschen für die Demokratie zu begeistern.
„Eigentlich müsste man alle Parteien komplett einstampfen“
Bei Kevin Geruschke hätten die Lohmeyers noch einiges an Arbeit vor sich: „Mitmachen? Das eigene Land gestalten? Wer das glaubt, ist vernebelt“, schnaubt der gelernte Bankkaufmann auf. Geruschke arbeitet in Teilzeit in einem Kiosk am Hauptbahnhof in Wismar. Das Geld reicht knapp für den Lebensunterhalt.
„Wenn ich hierbleiben will, muss ich damit rechnen, keinen Job zu finden.“ Er fühle sich wohl in der Hansestadt, doch Perspektive sieht er keine. Schuld seien die Politiker.
„Eigentlich müsste man alle Parteien komplett einstampfen und mit Menschen aus der Mitte der Gesellschaft neu gründen. Dann würde endlich etwas passieren.“ Nach einem kurzen Abschiedsgruß wendet er sich ab und bedient den nächsten Kunden.
Die „Zurückgelassenen“ von Kamminke
Komplett den Glauben an Fortschritt verloren, haben die Menschen im äußersten Osten des Bundeslandes. Auf der Insel Usedom, kurz vor der polnischen Grenze, liegt das malerische Kamminke.
Möwen kreisen am Steg, der Duft von geräuchertem Fisch liegt in der Luft. Ein Touristenpärchen küsst sich auf einer Bank mit Blick auf die Ostsee. Harmonie pur – so scheint es.
An einem Metzgerwagen treffen sich die Bewohner der 300-Einwohner-Gemeinde. Der Einkauf ist gemütlich, die Menschen plaudern, lachen hin und wieder.
Doch als sie auf das Wahlergebnis angesprochen werden, verfinstern sich ihre Mienen kurz. „Was soll damit sein?“, fragt einer der Rentner und lässt keinen Zweifel daran, dass eine Antwort seiner Meinung nach überflüssig ist.
Die AfD war in der Gegend so stark wie sonst nirgendwo in Mecklenburg-Vorpommern. Mit 42,8 Prozent wurden die Rechtspopulisten hier klar stärkste Kraft. Direktkandidat Enrico Komning holte sogar 61 Prozent der 215 abgegebenen Stimmen.
Annemarie Ackermann redet nicht viel um den heißen Brei herum: „Ich wähle AfD.“, sagt die Fischverkäuferin. "Ich finde dieses Land zum Kotzen. Deutschland vergisst seine eigenen Leute. Kein Wunder, dass hier keiner mehr Kinder haben will“, klagt die 62-Jährige. „Die Politiker und vorneweg Angela Merkel sollten sich schämen.“ Bei diesen Worten schießen Tränen in ihre Augen.
Sie schluckt kurz und setzt dann mit brüchiger Stimme fort: „Das ist Wut, die mir im Halse stecken bleibt. Und dann wundern die sich, dass plötzlich AfD gewählt wird“. Sie sei nicht rechtsradikal, sie habe einfach nur den Glauben an die Politik verloren. Nach einem Schlaganfall fange sie nun wieder an zu arbeiten: „Was bleibt mir für eine Wahl. Ich war mein Leben lang Selbstständige. Da brauche ich jeden Cent für die Rente.“ Es seien die Ungerechtigkeiten, die sie so wütend machen. Noch einmal wischt sie sich eine Träne von der Wange.
"Ich konnte meiner Frau nie eine Hochzeitsreise schenken"
Die Meinung der Imbissbudenbesitzerin teilt auch Sven Hollatz. Der Besitzer eines kleinen Gasthofs baut gerade die Garage seines Hauses um. Auch er habe die AfD gewählt. „Wenn uns Sachen vorgeschrieben werden, werden wir bockig. Deutschland hat nicht so viel Geld, um jeden einzelnen Flüchtling aufnehmen zu können. Wurden wir gefragt, ob wir die haben wollen? Nein!“
Im Prinzip habe er nichts gegen Ausländer, sie müssen sich nur gut integrieren. Er habe immer CDU gewählt, doch die Partei wäre ihm heute zu liberal. „Die Obergrenze von diesem Seehofer – das finde ich ja schon einen guten Ansatz“, murmelt er. Wenn sich Merkels Partei an den Bayernplan der CSU annähern würde, könnten sie mit seiner Stimme wieder rechnen.
Ein Auto fährt rückwärts die Einfahrt hinauf. Ein Mann in schmutzigen Klamotten und Basecap steigt aus. Der selbstständige Bauarbeiter Raasch und sein Kumpel Sven sind sich einig: „Wir brauchen in der Politik einen Störfaktor. Das ganze System ist verfahren. Tafeln wachsen wie Pilze aus dem Boden. Es kann ganz schnell gehen, und dann stehe auch ich plötzlich dort und bettle um Essen.“ Er würde sich wünschen, dass die Abgeordneten auch mal eine Woche auf Hartz-IV-Niveau leben müssten: „Die würden zerbrechen, aber stattdessen bekommen sie ihre hohen Diäten. Für mich heißt Diät eigentlich, abzuspecken. Die bekommen jedoch Tausende Euros.“
Raasch hat die Hoffnung auf einen Wandel mittlerweile aufgegeben. Die Politiker müssten endlich mal ehrlich mit ihnen darüber sprechen, was sie wirklich beschäftigt. Sie seien doch der Motor der Gesellschaft. „Ich bin seit acht Jahren
verheiratet. Bisher konnte ich meiner Frau nie eine Hochzeitsreise schenken. Dabei arbeite ich jeden Tag sehr hart, doch das Geld reicht hinten und vorne nicht.“
CDU-Mitglied greift Merkel an
Der Bürgermeister des kleinen Ortes Uwe Hartmann kennt die Sorgen seiner Gemeinschaft. Die Einwohner von Kamminke seien nicht rechts, sie fühlen sich nur ignoriert und zurückgelassen, sagt er.
Doch er ist sich sicher: Deren Hilferufe werden ohne Reaktion verstummen. „Wenn sich die Bundeskanzlerin einen Tag nach der Wahl hinstellt und sagt, sie wüsste nicht, was sie in Zukunft anders machen sollte, ist das ein fatales Signal an die Bevölkerung.“ Deutliche Worte von einem CDU-Mitglied.
Merkels Erfolg in ihrem Wahlkreis täuscht über die Realität hinweg
Zumindest in Merkels Wahlkreis „Vorpommern-Rügen – Vorpommern-Greifswald I“ kann sich die in der DDR aufgewachsene Kanzlerin auf ihre Anhänger verlassen. Zwar verlor sie 12 Punkte im Vergleich zu 2013, doch landete sie mit 44 Prozent immer noch deutlich vor dem AfD-Landesvorsitzenden Leif-Erik Holm (19,2 Prozent der Erststimmen).
Reinhard T. ist der Stolz sichtlich anzusehen: „Merkel hat es einfach drauf“, sagt der gebürtige Stralsunder freudestrahlend. Er ist sich sicher, sie wird die Deutschen bis zu ihrem Rücktritt so gut es geht vertreten. Jemand Besseres könnte es für die Bundesrepublik nicht geben. Mit diesen Worten steigt der junge Mann wieder auf sein Fahrrad und radelt davon.
"Merkel vergisst ihr Volk"
Wenige hundert Meter hat Regina Seidel-Otto eine ganz andere Meinung. Die 51-Jährige ist Hut- und Mützenmacherin. Sie besitzt einen kleinen Laden im Zentrum Stralsunds. Die Stimmung ist prächtig. Sie scherzt mit zwei Kunden und verabschiedet die beiden mit einer Lebensweisheit: Gehen Sie nie bei minus acht Grad ins Wasser und tragen sie dabei einen Badeanzug. Der wird steinhart. Lautes Gelächter.
Auch sie ist auf die Bundestagswahl nicht gut zu sprechen, doch es ist eine andere Art von Unmut als zuvor beim Fleischwarenhändler in Kamminke.
Ihr liegt das Thema sichtlich am Herzen, es ist keine Resignation, die aus ihr spricht. Vielmehr versteckt sich hinter ihrem traurigen Blick eine tiefe Enttäuschung, allerdings auch ein Fünkchen Hoffnung.
Merkel sei eine populäre Politikerin, die positiv für die Region sei, aber nicht für die Menschen, die dort leben. „Sie vergisst ihr Volk“, so die Hutmacherin. „Wir sind ein Bundesland, das wenig Kontakt zu Menschen hat, da alles so landläufig ist.“ Die Menschen würden deshalb besonders sensibel auf fremde Nationalitäten reagieren. „Sie haben Angst, dass ihnen das Wenige, was sie haben, auch noch weggenommen wird. Ich habe es zum Beispiel geliebt, ins Theater zu gehen. Wir haben demonstriert, Unterschriftenaktionen gestartet, doch es hat nichts genutzt, unser Theater fusionierte und Stellen wurden gekürzt.“
Diesen Fehler verzeihe sie den Landesvorständen nie. Dennoch kämpfe sie weiter. Jede Veränderung beginne mit kaum wahrnehmbaren Schritten: „Ich liebe die Menschen hier. Deshalb werde ich die Gegend nie verlassen. Ich versuche einfach die kleine Welt zu gestalten, die große politische Welt ist schon lange unantastbar.“
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